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Zweiter ontologischer Teil.
heiten des Seinsbegriffes müssen wir uns in diesem Zusammen-
hang besonders hüten. Wir sind immer geneigt, das Wort „sein“
in seiner Bedeutung unwillkürlich irgendwie zu differenzieren,
und der Sprachgebrauch des „Lebens“ kann uns hier leicht zu
Unklarheiten verleiten. Deswegen seien noch einige Fälle, die in
der Hinsicht eine ausgezeichnete Bedeutung haben, insofern bei
ihnen das Wort „sein“ nicht in seiner allgemeinsten, sondern in
einer bereits differenzierten Bedeutung benutzt wird, aufgezählt.
Der schon erwähnte Fall, bei dem unter „Sein“ das „wahre“ Sein
im Unterschied von andern Seinsarten gemeint ist, ist nicht der
einzige.
Wir sind z. B. auch gewohnt, das „Sein“ in einen Gegensatz
zum Werden zu bringen. Sobald das geschieht, ist selbstverständ-
lich bereits eine besondere Art des Seins, nicht das Sein als bloße
Denkform gemeint. Soll von allem Denkbaren gesagt werden
können, daß es „ist“, dann muß man auch das Werden ein „Sein“
in dieser umfassendsten und allgemeinsten Bedeutung des Wortes
nennen. Was „wird“, das „ist“ zugleich. Ja, es läßt sich wohl
denken, daß „das Werden“ sich ebenso zu einem besonderen Ur-
prädikat des Erkennens eignet wie die andern Seinsarten, die
Erkenntnisprädikate sind, und wenn man dann das Sein von diesem
Werden trennt, also das Werdende für nicht-seiend erklärt, dann
ist gewiß auch das vom Werden verschiedene „Sein“ ein Erkenntnis-
prädikat, ja ein Urprädikat des Erkennens. Man kann dann sogar
darüber streiten, ob das „wahre“ Sein der Welt ein Sein im Sinne
des Werdens ist, oder ob es im Gegensatz zum Werden steht, d. h.
ein wandelloses, unveränderliches Sein ist, dem gegenüber alles
Werden zum nicht wahrhaft Seienden herabsinkt. An solche Fragen
darf man bei dem Gebrauch des Wortes Sein als einer bloßen Denk-
form nicht denken.
Zur Verdeutlichung sei auf eine wenig bekannte Variante in
Goethes Faust hingewiesen, gerade weil sie noch außerhalb der
Wissenschaft liegt. In der endgültigen Fassung heißt es an der
Stelle, an der „der Herr“ im „Prolog im Himmel“ sich an die
Engel wendet: „das Werdende, das ewig wirkt und lebt“. Es
ist interessant zu sehen, daß die Stelle einmal anders lautete.
Goethe hatte geschrieben: „Das Sein des Seins, das ewig lebt1“.
An die Stelle des Seins, das hier soviel wie „ontos on“ bedeutet,
1 Vgl. die Ausgabe des „Faust“ in der Weimarer Sophien-Ausgabe von
Erich Schmidt, Bd. I, S. 255.
Zweiter ontologischer Teil.
heiten des Seinsbegriffes müssen wir uns in diesem Zusammen-
hang besonders hüten. Wir sind immer geneigt, das Wort „sein“
in seiner Bedeutung unwillkürlich irgendwie zu differenzieren,
und der Sprachgebrauch des „Lebens“ kann uns hier leicht zu
Unklarheiten verleiten. Deswegen seien noch einige Fälle, die in
der Hinsicht eine ausgezeichnete Bedeutung haben, insofern bei
ihnen das Wort „sein“ nicht in seiner allgemeinsten, sondern in
einer bereits differenzierten Bedeutung benutzt wird, aufgezählt.
Der schon erwähnte Fall, bei dem unter „Sein“ das „wahre“ Sein
im Unterschied von andern Seinsarten gemeint ist, ist nicht der
einzige.
Wir sind z. B. auch gewohnt, das „Sein“ in einen Gegensatz
zum Werden zu bringen. Sobald das geschieht, ist selbstverständ-
lich bereits eine besondere Art des Seins, nicht das Sein als bloße
Denkform gemeint. Soll von allem Denkbaren gesagt werden
können, daß es „ist“, dann muß man auch das Werden ein „Sein“
in dieser umfassendsten und allgemeinsten Bedeutung des Wortes
nennen. Was „wird“, das „ist“ zugleich. Ja, es läßt sich wohl
denken, daß „das Werden“ sich ebenso zu einem besonderen Ur-
prädikat des Erkennens eignet wie die andern Seinsarten, die
Erkenntnisprädikate sind, und wenn man dann das Sein von diesem
Werden trennt, also das Werdende für nicht-seiend erklärt, dann
ist gewiß auch das vom Werden verschiedene „Sein“ ein Erkenntnis-
prädikat, ja ein Urprädikat des Erkennens. Man kann dann sogar
darüber streiten, ob das „wahre“ Sein der Welt ein Sein im Sinne
des Werdens ist, oder ob es im Gegensatz zum Werden steht, d. h.
ein wandelloses, unveränderliches Sein ist, dem gegenüber alles
Werden zum nicht wahrhaft Seienden herabsinkt. An solche Fragen
darf man bei dem Gebrauch des Wortes Sein als einer bloßen Denk-
form nicht denken.
Zur Verdeutlichung sei auf eine wenig bekannte Variante in
Goethes Faust hingewiesen, gerade weil sie noch außerhalb der
Wissenschaft liegt. In der endgültigen Fassung heißt es an der
Stelle, an der „der Herr“ im „Prolog im Himmel“ sich an die
Engel wendet: „das Werdende, das ewig wirkt und lebt“. Es
ist interessant zu sehen, daß die Stelle einmal anders lautete.
Goethe hatte geschrieben: „Das Sein des Seins, das ewig lebt1“.
An die Stelle des Seins, das hier soviel wie „ontos on“ bedeutet,
1 Vgl. die Ausgabe des „Faust“ in der Weimarer Sophien-Ausgabe von
Erich Schmidt, Bd. I, S. 255.