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Otto Immisch:
Pathos. Körperlich zu denken ist ebenso am Ende das Sterbens-
gefühl auf dem Höhepunkt der Aufzählung, wie am Eingang: to goi
[xav xapStav sv cttjEsgiv e7UToacsv. Dies verscheuchte, unter dem sinn-
verwirrenden Anblick sich gleichsam „duckende“ Herz ist wirklich
nur der in der Beklemmung fast aussetzende Herzmuskel. Cor
hätte dafür Catull sehr gut sagen können. Aber gerade dies tat er
nicht. Die ein Halbjahrtausend betragende Distanz zeigt sich wohl
in nichts so deutlich, wie in der ausgeprägten „Gedanklichkeit“
seiner Übertragung: misero quod omnis eripit sensus mihi. Damit
geschieht noch viel mehr, als daß das erste Glied der Aufzählung
gleichsam entmaterialisiert und damit das Ganze aus der rein phy-
siologischen in eine mehr psychologische Sphäre versetzt wird —
uia&riGieQ an dieser Stelle wäre, wie Snell treffend bemerkt, für
Sappho noch ganz undenkbar —; indessen der kollektive Plural
nimmt nun auch im logischen Sinn in der von ihm eröffneten Reihe
eine entscheidende Stellung ein; er dominiert das Ganze und faßt
gleichsam abstrakt terminologisch die dahinter stehende Folge
der Phaenomena als eine solche von Sensualitäten zusammen zu
einer empfindungsmäßigen Einheit, der sich das leidende Individu-
um bewußt ist und die es nun als einen zu einem Gesamt ver-
bundenen Zustand zum Ausdruck bringt. Erst bei ihm also
kommt an Stelle der bloßen archaischen Reihung, welche Sappho
aufweist, eine gliedbauliche Geschlossenheit heraus, wie sie der
Verfasser Ttspl üipoop fordert und irrtümlich auch schon bei Sappho
musterhaft verwirklicht sehen will: neben sxkoyyj twv >o][X[xa.-
tmv deren smcnSv-bscuc; und ttoxvcogu;, oder auch: ouv89)oat, neben sx>i-
ysiv! Da ist es charakteristisch, daß er alsdann im Nachwort zu dem
von ihm vorgelegten Mustergedicht über die zweite Tugend nichts
rechtes zu sagen weiß, jedenfalls nicht mehr als was auf ein bloßes
Aggregat auch zutreffen würde; denn eine 7tabcov guvoSoc (statt
lv Ti Tuabop) und rj sie, tocuto covatpeaiq, das ist noch lange nicht
soviel wie das Organische (xabocTtsp ev ti Gcojxa). Catull dagegen hatte
die archaische Reihung mit der nachher beim Theoretiker uns be-
gegnenden Forderung auszugleichen seinerseits bereits nicht ohne
Erfolg versucht.
Auch etwas anderes hat er damit erreicht. Sein identidem,
welches betont, daß die Reihe der Symptome in der gleichen ero-
tischen Situation sich fort und fort wiederholte, erzielt den Ein-
druck, daß es sich nun auch wirklich um eine spezifische und wesens-
eigne Pathologie eben des Liebeserlebnisses handelt. Dagegen hat
Otto Immisch:
Pathos. Körperlich zu denken ist ebenso am Ende das Sterbens-
gefühl auf dem Höhepunkt der Aufzählung, wie am Eingang: to goi
[xav xapStav sv cttjEsgiv e7UToacsv. Dies verscheuchte, unter dem sinn-
verwirrenden Anblick sich gleichsam „duckende“ Herz ist wirklich
nur der in der Beklemmung fast aussetzende Herzmuskel. Cor
hätte dafür Catull sehr gut sagen können. Aber gerade dies tat er
nicht. Die ein Halbjahrtausend betragende Distanz zeigt sich wohl
in nichts so deutlich, wie in der ausgeprägten „Gedanklichkeit“
seiner Übertragung: misero quod omnis eripit sensus mihi. Damit
geschieht noch viel mehr, als daß das erste Glied der Aufzählung
gleichsam entmaterialisiert und damit das Ganze aus der rein phy-
siologischen in eine mehr psychologische Sphäre versetzt wird —
uia&riGieQ an dieser Stelle wäre, wie Snell treffend bemerkt, für
Sappho noch ganz undenkbar —; indessen der kollektive Plural
nimmt nun auch im logischen Sinn in der von ihm eröffneten Reihe
eine entscheidende Stellung ein; er dominiert das Ganze und faßt
gleichsam abstrakt terminologisch die dahinter stehende Folge
der Phaenomena als eine solche von Sensualitäten zusammen zu
einer empfindungsmäßigen Einheit, der sich das leidende Individu-
um bewußt ist und die es nun als einen zu einem Gesamt ver-
bundenen Zustand zum Ausdruck bringt. Erst bei ihm also
kommt an Stelle der bloßen archaischen Reihung, welche Sappho
aufweist, eine gliedbauliche Geschlossenheit heraus, wie sie der
Verfasser Ttspl üipoop fordert und irrtümlich auch schon bei Sappho
musterhaft verwirklicht sehen will: neben sxkoyyj twv >o][X[xa.-
tmv deren smcnSv-bscuc; und ttoxvcogu;, oder auch: ouv89)oat, neben sx>i-
ysiv! Da ist es charakteristisch, daß er alsdann im Nachwort zu dem
von ihm vorgelegten Mustergedicht über die zweite Tugend nichts
rechtes zu sagen weiß, jedenfalls nicht mehr als was auf ein bloßes
Aggregat auch zutreffen würde; denn eine 7tabcov guvoSoc (statt
lv Ti Tuabop) und rj sie, tocuto covatpeaiq, das ist noch lange nicht
soviel wie das Organische (xabocTtsp ev ti Gcojxa). Catull dagegen hatte
die archaische Reihung mit der nachher beim Theoretiker uns be-
gegnenden Forderung auszugleichen seinerseits bereits nicht ohne
Erfolg versucht.
Auch etwas anderes hat er damit erreicht. Sein identidem,
welches betont, daß die Reihe der Symptome in der gleichen ero-
tischen Situation sich fort und fort wiederholte, erzielt den Ein-
druck, daß es sich nun auch wirklich um eine spezifische und wesens-
eigne Pathologie eben des Liebeserlebnisses handelt. Dagegen hat