Catulls Sappho
7
Sappho, wofür der Kürze halber auf Snell verwiegen sei, trotz
ihrer allerdings sehr eignen und bedeutsamen Auffassung dieses
Erlebens die dafür verwendeten Phaenomena seihst gleichwohl
anderswoher entlehnt, aus verschiedenen Sphären des Empfindens,
für die sie im Epos geläufig sind: Furcht, Trauer, Staunen. Wie
wenig durchschlagend ihre Übertragung auf den Eros war, dafür
gibt es zwei aufschlußreiche Belege, bei Theokrit und Lukrez. Jener
hält es an einer Stelle, wo er Sappho nachbildet (Pharm. 106ff.),
für erwünscht, die besondere Verbindung der Affekte mit dem
erotischen Bereich dadurch zum Ausdruck zu bringen, daß er zwei
davon wenigstens zu ausgesprochen weiblichen Erlebnissen macht,
indem er das Sterbensgefühl der Lähmung mit der Starre einer
vergleicht, jener von den Frauen beim Liebeszauber verwendeten
Puppe, und das Versagen der Sprache mit dem nach der Mutter
verlangenden Lallen schlafender Kleinkinder. Lucrez hingegen
(oder richtiger: seine epikureische Vorlage) ist sich bei diesen
Phänomenen ihrer ursprünglichen Verschiedenheit vom Eros so
klar bewußt, daß deren Aufzählung, obwohl durchaus an die
sapphische angelehnt, hei ihm zur Schilderung des Affekts der
Furcht dient, welchen Einzelaffekt er sich herausgesucht hat, um
an seinen Erscheinungsformen den Satz von der Sympathie zwischen
Seele und Körper zu erläutern (III 152ff.); übrigens sicher nicht,
was doch zeitlich möglich wäre, durch Catulls Sapphicum angeregt,
da mit der Erwähnung von sudores (v. 154) auch die von diesem
weggelassene Sappho-Strophe sich geltend macht.
Fragen wir nun, warum Catull bei seiner Nachbildung diese
Kürzung um eine ganze Strophe vornahm, so ist an sich denkbar
und war vielleicht mitbestimmend, daß die trotz innerer Umge-
staltung immer noch archaisch anmutende Reihung ihm rein
quantitativ zu lang und als altmodisch umständlich erschien. War
man doch durch die Alexandriner ans \ztzt6v gewöhnt. Vor allem
aber kommt doch wohl die Besonderheit seiner seelischen Lage in
Betracht und deren Verschiedenheit von derjenigen Sapphos.
Unsere neuesten Interpreten sind beide darauf nicht eingegangen.
Vermutlich wollten sie der bis zum Überdruß erörterten Frage nach
dem Wesen der sapphischen Liebe aus dem Wege gehen. Auch wir
denken an keine neue Erörterung. Es genügt vollkommen, dem
weibweiblichen Empfindungsleben der edlen Frau das gleiche Maß
an sublimer Geistigkeit zuzutrauen wie dem mannmännlichen bei
Sokrates und Platon. Indessen, wenn auch nicht pervers, anormal
7
Sappho, wofür der Kürze halber auf Snell verwiegen sei, trotz
ihrer allerdings sehr eignen und bedeutsamen Auffassung dieses
Erlebens die dafür verwendeten Phaenomena seihst gleichwohl
anderswoher entlehnt, aus verschiedenen Sphären des Empfindens,
für die sie im Epos geläufig sind: Furcht, Trauer, Staunen. Wie
wenig durchschlagend ihre Übertragung auf den Eros war, dafür
gibt es zwei aufschlußreiche Belege, bei Theokrit und Lukrez. Jener
hält es an einer Stelle, wo er Sappho nachbildet (Pharm. 106ff.),
für erwünscht, die besondere Verbindung der Affekte mit dem
erotischen Bereich dadurch zum Ausdruck zu bringen, daß er zwei
davon wenigstens zu ausgesprochen weiblichen Erlebnissen macht,
indem er das Sterbensgefühl der Lähmung mit der Starre einer
vergleicht, jener von den Frauen beim Liebeszauber verwendeten
Puppe, und das Versagen der Sprache mit dem nach der Mutter
verlangenden Lallen schlafender Kleinkinder. Lucrez hingegen
(oder richtiger: seine epikureische Vorlage) ist sich bei diesen
Phänomenen ihrer ursprünglichen Verschiedenheit vom Eros so
klar bewußt, daß deren Aufzählung, obwohl durchaus an die
sapphische angelehnt, hei ihm zur Schilderung des Affekts der
Furcht dient, welchen Einzelaffekt er sich herausgesucht hat, um
an seinen Erscheinungsformen den Satz von der Sympathie zwischen
Seele und Körper zu erläutern (III 152ff.); übrigens sicher nicht,
was doch zeitlich möglich wäre, durch Catulls Sapphicum angeregt,
da mit der Erwähnung von sudores (v. 154) auch die von diesem
weggelassene Sappho-Strophe sich geltend macht.
Fragen wir nun, warum Catull bei seiner Nachbildung diese
Kürzung um eine ganze Strophe vornahm, so ist an sich denkbar
und war vielleicht mitbestimmend, daß die trotz innerer Umge-
staltung immer noch archaisch anmutende Reihung ihm rein
quantitativ zu lang und als altmodisch umständlich erschien. War
man doch durch die Alexandriner ans \ztzt6v gewöhnt. Vor allem
aber kommt doch wohl die Besonderheit seiner seelischen Lage in
Betracht und deren Verschiedenheit von derjenigen Sapphos.
Unsere neuesten Interpreten sind beide darauf nicht eingegangen.
Vermutlich wollten sie der bis zum Überdruß erörterten Frage nach
dem Wesen der sapphischen Liebe aus dem Wege gehen. Auch wir
denken an keine neue Erörterung. Es genügt vollkommen, dem
weibweiblichen Empfindungsleben der edlen Frau das gleiche Maß
an sublimer Geistigkeit zuzutrauen wie dem mannmännlichen bei
Sokrates und Platon. Indessen, wenn auch nicht pervers, anormal