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Immisch, Otto; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1933/34, 2. Abhandlung): Catulls Sappho — Heidelberg, 1933

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https://doi.org/10.11588/diglit.40167#0008
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Otto Immisch:

ist diese Art Liebe dennoch, und insofern war es wohl letzten Endes
nicht eben ein glücklicher Griff Catulls, gerade Sappho zur Interpretin
der eignen, höchst normalen mannweiblichen Liebe zu machen. Da
hat der Wunsch nach einer ausgesuchten „literarischen“ Huldigung,
der ja auch zum Pseudonym Lesbia führte, über das gesunde natür-
liche Empfinden obgesiegt. Sehr begreiflich indessen, wenn er
wenigstens den exaltiertesten Teil des Gefühlsausbruchs der
Griechin unterdrückte: Schweiß, Gliederzittern, Verfärbung, Ster-
bensgefühl. Dem jugendlichen Mann hätte das wohl schlecht zu
Gesicht gestanden. Man vergegenwärtige sich nur die Situation.
Schon das Angeeignete macht einen übertriebenen Eindruck; eine
bekennerhafte Übernahme auch der weggelassenen Strophe mußte
im Mund eines frischen Jungen fast lächerlich wirken.
Freilich hat W. Kranz geglaubt (Herrn. LXV 1930, 236), der
Grund für das Fortlassen sei ein ganz andrer gewesen. Er verbindet
damit die catullische Schlußstrophe. "Er bekams nicht über sich,
seinen eignen Zustand in Sapphos Weise weiterzubeschreiben.
Eben bei dieser das eigne Ich zergliedernden Arbeit kam ihm die
Gefahr seines dem otium gewidmeten Lebens so deutlich zu Be-
wußtsein, daß er mit einer Mahnung ans eigne Herz kurz ab-
brach, womit, was ursprünglich Hiddigung für Lesbia sein
sollte, nun ein Gedicht ran sich selbst’ wurde.“ •— Diese Inter-
pretation scheitert daran, daß Catull an der entscheidenden
Stelle alles andere tat, nur nicht, was man ein „kurzes Ab-
brechen“ nennen könnte. Doch um das richtig zu erkennen,
ist es zweckmäßig, vorher die wichtigsten Freiheiten der
äußeren Form zu betrachten, die sich Catull genommen hat, und
die beweisen, wie wenig überhaupt es ihm in diesem Fall, trotzdem
es zunächst doch eine „literarische“ Huldigung sein sollte, um einen
engen Anschluß und Übersetzertreue zu tun war; ganz anders als
im Fall der Coma Berenices, wo wir jetzt sehen, daß er als der
„doctus“ Poeta der Garmina Maiora es durchaus fertig bringt, auch
so etwas wie ein förmliches „poetisches Exercitium“ zu machen
(nach dem Ausdruck Ed. Fraenkels, Gnomon V 1929, 265). Da
ist er bemüht, nach Möglichkeit „Vers für Vers dem Original zu
folgen“, so daß die Abweichungen ungewollt sind und derVersnot
entspringen oder „dem Unvermögen des Übersetzers, mit seinem
Original im Takt zu bleiben“, während er im Sappholiede, „um
seine eigene miseria auszusprechen, das griechische Original von
innen heraus völlig umgestaltet und seine geschlossene Form zer-
 
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