Platonismus und Mystik im Altertum.
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keit des Menschen unwirksam geworden, da sie mehr den .Schön-
heitssinn befriedigte als dem neuen Bedürfnis der Menschen ent-
gegenkam, in Einigkeit mit dem Numen zu leben. Die Philosophien
der mittleren Stoa, der Neupythagoreer und Neuplatoniker kulmi-
nieren sämtlich in Theodizee1: Ob die Welt vollkommener Orga-
nismus, ob sie mathematisches Kunstwerk oder allumfassendes
Drama ist, sie ist ‘Ganzes’ und als Ganzes ‘gut’. Das Schlechte
haftet am Erkrankten, Gefallenen und Abgespaltenen. Daher
nehmen alle Richtungen Anschluß an denTimaios; denn der addiert
nicht die Weltinhalte zu einer Summe, sondern prägt erstmals den
Begriff des Universums als der einzigen sichtbaren Totalität2. Hier
aber setzt nun zugleich die eigene philosophische Leistung des
Hellenismus ein. Sie besteht darin, daß zum ersten Male im Ver-
laufe der abendländischen Geistesgeschichte das Problem des
Werdens in voller Grundsätzlichkeit gestellt und daß zu seiner
Lösung alle diejenigen Wege gebahnt wurden, die für das ganze
Mittelalter vorbildlich blieben. Heraklit hatte zwar den Begriff
des Werdens konzipiert und mit dem Logosbegriff verbunden;
aber das Werden erschöpfte sich für ihn in dem ‘Austausch’, daß
Gegensätze ineinander Umschlägen, wobei das Gesetz der Koinzi-
denz die Regelmäßigkeit des Umschlags beherrscht. Die Mecha-
wirkungen des Platonismus übersehbar und verständlich zu machen. Das
Paradoxe der philosophischen Situation des Hellenismus ist ohne Problem-
geschichte überhaupt nicht faßbar zu machen: Hellenistische Bedürfnisse
werden durch Platonische Lehrstücke in der durch Aristoteles bewirkten
Transformation des Denkstils befriedigt, wobei diese neue, populäre Art des
Philosophierens die Weltweisheit in eine die Geister beherrschende Stellung
bringt wie nie zuvor und alle Schulgrenzen sprengt. In der späteren Kaiser-
zeit überwucherten wieder die magischen und gnostischen Strömungen; im
Hellenismus stieg aber die Philosophie tatsächlich von den Höhen des Gedan-
kens in die Täler des Lebens, was ohne die Konversion der Motive nicht mög-
lich war. In diesem Sinne, aber auch nur in diesem, darf man, mit Usener
und mit der Bibliothek Warburg, von einem 'Erhaltungsgesetz5 auch in der
Philosophiegeschichte sprechen. Erhalten blieb, was Platon geschrieben,
aber nicht, wie er gedacht hatte. Die Bedeutung der hellenistischen Philo-
sophie im allgemein geistesgeschichtlichen Sinne zu verstehen hat uns be-
sonders Karl Praechter gelehrt. Ygl. O. Rieths Nachruf auf ihn im Gnomon
IX, 1933 S. 333ff.
1 K. Gronau, Das Theodizeeproblem in der altchristlichen Auffassung,
Tübingen 1922, bringt in der Einleitung einiges Material, ohne aber in die
hier nötige Breite der Problementfaltung einzugehen.
2 Der eleatische Totalitätsbegriff hatte dafür den Denkweg geschaf-
fen. Das All als Einziges, in dem das Allgemeine konkret ist.
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keit des Menschen unwirksam geworden, da sie mehr den .Schön-
heitssinn befriedigte als dem neuen Bedürfnis der Menschen ent-
gegenkam, in Einigkeit mit dem Numen zu leben. Die Philosophien
der mittleren Stoa, der Neupythagoreer und Neuplatoniker kulmi-
nieren sämtlich in Theodizee1: Ob die Welt vollkommener Orga-
nismus, ob sie mathematisches Kunstwerk oder allumfassendes
Drama ist, sie ist ‘Ganzes’ und als Ganzes ‘gut’. Das Schlechte
haftet am Erkrankten, Gefallenen und Abgespaltenen. Daher
nehmen alle Richtungen Anschluß an denTimaios; denn der addiert
nicht die Weltinhalte zu einer Summe, sondern prägt erstmals den
Begriff des Universums als der einzigen sichtbaren Totalität2. Hier
aber setzt nun zugleich die eigene philosophische Leistung des
Hellenismus ein. Sie besteht darin, daß zum ersten Male im Ver-
laufe der abendländischen Geistesgeschichte das Problem des
Werdens in voller Grundsätzlichkeit gestellt und daß zu seiner
Lösung alle diejenigen Wege gebahnt wurden, die für das ganze
Mittelalter vorbildlich blieben. Heraklit hatte zwar den Begriff
des Werdens konzipiert und mit dem Logosbegriff verbunden;
aber das Werden erschöpfte sich für ihn in dem ‘Austausch’, daß
Gegensätze ineinander Umschlägen, wobei das Gesetz der Koinzi-
denz die Regelmäßigkeit des Umschlags beherrscht. Die Mecha-
wirkungen des Platonismus übersehbar und verständlich zu machen. Das
Paradoxe der philosophischen Situation des Hellenismus ist ohne Problem-
geschichte überhaupt nicht faßbar zu machen: Hellenistische Bedürfnisse
werden durch Platonische Lehrstücke in der durch Aristoteles bewirkten
Transformation des Denkstils befriedigt, wobei diese neue, populäre Art des
Philosophierens die Weltweisheit in eine die Geister beherrschende Stellung
bringt wie nie zuvor und alle Schulgrenzen sprengt. In der späteren Kaiser-
zeit überwucherten wieder die magischen und gnostischen Strömungen; im
Hellenismus stieg aber die Philosophie tatsächlich von den Höhen des Gedan-
kens in die Täler des Lebens, was ohne die Konversion der Motive nicht mög-
lich war. In diesem Sinne, aber auch nur in diesem, darf man, mit Usener
und mit der Bibliothek Warburg, von einem 'Erhaltungsgesetz5 auch in der
Philosophiegeschichte sprechen. Erhalten blieb, was Platon geschrieben,
aber nicht, wie er gedacht hatte. Die Bedeutung der hellenistischen Philo-
sophie im allgemein geistesgeschichtlichen Sinne zu verstehen hat uns be-
sonders Karl Praechter gelehrt. Ygl. O. Rieths Nachruf auf ihn im Gnomon
IX, 1933 S. 333ff.
1 K. Gronau, Das Theodizeeproblem in der altchristlichen Auffassung,
Tübingen 1922, bringt in der Einleitung einiges Material, ohne aber in die
hier nötige Breite der Problementfaltung einzugehen.
2 Der eleatische Totalitätsbegriff hatte dafür den Denkweg geschaf-
fen. Das All als Einziges, in dem das Allgemeine konkret ist.
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