Platonismus und Mystik im Altertum.
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des religiösen Lebens der verschiedenen Völker im Grunde einen
identischen Sinn haben. Die Unendlichkeit Gottes ist das
einleuchtende Korrelat zu der Vorstellung, daß Eine Mensch-
heit alle Völker umfaßt; daß Ein Reich dauern wird, das
nicht von dieser Welt ist; daß die Zeiten sich in Einem Hei-
land erfüllen werden1.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß der Anschluß, den die
mystisch werdende Philosophie der Spätantike bei den ältesten
griechischen Spekulationen suchte und fand, zum Nachteile der
Erhaltung jener kritischen Forschungsweise geschah, die das ge-
meinsame Ergebnis naturgeschichtlicher, mathematischer und be-
griff sphilosophischer Arbeit der jonischen, dorischen und attischen
Kultur2 gewesen war. Aber es wäre irrtümlich, zu meinen, daß auch
der neue Denkweg zum Unendlichen nur einen vorwissenschaft-
lichen Erkenntnisstil erneuerte, der hinter Platon zurückwies und
Vorstellungen von Anaximandros und Xenophanes verwendete.
Vielmehr, wenn in archaischen Zeiten Anaximandros das Apeiron,
den bestimmungslosen Urstoff, mit der Gottheit identifiziert hatte;
wenn Xenophanes das unendliche Weltall selber zum Gott gemacht
hatte, so war das immer Spekulation gewesen über das Allgemeine
als unendliches Totum und Maximum. Der unendliche Gott der
griechischen Spätzeit aber ist gedacht nach Maßgabe jenes Unend-
lichen Minimums, das als Same, als Eins, als Quell gleichsam den
substantiellen Punkt bildet, dem funktionell die unbegrenzte
Kraft der Zeugung, Entfaltung und Entquellung zur Verfügung
steht. Wiederum ist zu sagen: Erst hier ist der Weg zu positiver
Mystik offen; denn will die Mystik Einung sein, so muß der abso-
lute Gott primär als das ursprünglich-Eine, nicht aber bereits an-
fänglich als das umfassend-Ganze gedacht werden3. Soll das End-
1 Vgl. Droysen, a. a. 0. S. 7.
2 S. über diese Trias O. Regenbogen, Die Naturwissenschaft der Peri-
patetiker, Scientia Dez. 1931, S. 345ff.
3 Sondern nur sekundär kann das Ganze zu einem ‘zweiten’ oder ‘geoffen-
barten’ Gott werden, indem Gott-Logos (als Weisheit, Vorbild oder Schöpfer-
kraft) in den Kosmos eingeht, also selber aus dem bestimmungslosen Übersein
heraustritt und bestimmtes Sein wird. Alle Varianten (ovoga, elxctv, Süvagt?)
auf dieselbe Norm gebracht bei Philon, s. C. Siegfried, Philo, 1875, S. 219ff.
— Bei Plotinos steht neben dem Einen Urwesen sogleich die übersinnliche Welt
des Nus; Jamblichos hingegen ließ zwischen dem Einen unaussprechlichen Ur-
wesen und der mit dem Nus beginnenden Vielheit eine ‘zweite Einheit’ die Mitte
halten. Vgl. Zeller III, 24, S. 745f. Das war noch pythagoreisch gedacht:
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des religiösen Lebens der verschiedenen Völker im Grunde einen
identischen Sinn haben. Die Unendlichkeit Gottes ist das
einleuchtende Korrelat zu der Vorstellung, daß Eine Mensch-
heit alle Völker umfaßt; daß Ein Reich dauern wird, das
nicht von dieser Welt ist; daß die Zeiten sich in Einem Hei-
land erfüllen werden1.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß der Anschluß, den die
mystisch werdende Philosophie der Spätantike bei den ältesten
griechischen Spekulationen suchte und fand, zum Nachteile der
Erhaltung jener kritischen Forschungsweise geschah, die das ge-
meinsame Ergebnis naturgeschichtlicher, mathematischer und be-
griff sphilosophischer Arbeit der jonischen, dorischen und attischen
Kultur2 gewesen war. Aber es wäre irrtümlich, zu meinen, daß auch
der neue Denkweg zum Unendlichen nur einen vorwissenschaft-
lichen Erkenntnisstil erneuerte, der hinter Platon zurückwies und
Vorstellungen von Anaximandros und Xenophanes verwendete.
Vielmehr, wenn in archaischen Zeiten Anaximandros das Apeiron,
den bestimmungslosen Urstoff, mit der Gottheit identifiziert hatte;
wenn Xenophanes das unendliche Weltall selber zum Gott gemacht
hatte, so war das immer Spekulation gewesen über das Allgemeine
als unendliches Totum und Maximum. Der unendliche Gott der
griechischen Spätzeit aber ist gedacht nach Maßgabe jenes Unend-
lichen Minimums, das als Same, als Eins, als Quell gleichsam den
substantiellen Punkt bildet, dem funktionell die unbegrenzte
Kraft der Zeugung, Entfaltung und Entquellung zur Verfügung
steht. Wiederum ist zu sagen: Erst hier ist der Weg zu positiver
Mystik offen; denn will die Mystik Einung sein, so muß der abso-
lute Gott primär als das ursprünglich-Eine, nicht aber bereits an-
fänglich als das umfassend-Ganze gedacht werden3. Soll das End-
1 Vgl. Droysen, a. a. 0. S. 7.
2 S. über diese Trias O. Regenbogen, Die Naturwissenschaft der Peri-
patetiker, Scientia Dez. 1931, S. 345ff.
3 Sondern nur sekundär kann das Ganze zu einem ‘zweiten’ oder ‘geoffen-
barten’ Gott werden, indem Gott-Logos (als Weisheit, Vorbild oder Schöpfer-
kraft) in den Kosmos eingeht, also selber aus dem bestimmungslosen Übersein
heraustritt und bestimmtes Sein wird. Alle Varianten (ovoga, elxctv, Süvagt?)
auf dieselbe Norm gebracht bei Philon, s. C. Siegfried, Philo, 1875, S. 219ff.
— Bei Plotinos steht neben dem Einen Urwesen sogleich die übersinnliche Welt
des Nus; Jamblichos hingegen ließ zwischen dem Einen unaussprechlichen Ur-
wesen und der mit dem Nus beginnenden Vielheit eine ‘zweite Einheit’ die Mitte
halten. Vgl. Zeller III, 24, S. 745f. Das war noch pythagoreisch gedacht: