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Arnold von Saus :
nicht mehr als eine Erinnerung an einen Erzählungsstoff, den jedes
Kind auf Kreta kennt, in gedrängter symbolischer Form.
Mit anderen Worten: Liebeswerbung, Übergabe des rettenden
Fadens und Entführung zur See, alles ist hier wie in einem Brenn-
spiegel vereinigt, was uns der vielbesprochene Goldring von Tiryns,
in die einzelnen Etappen zerlegt, als „kontinuierliche“ Schilderung
vor Augen führt. Denn an der Deutung, die wir für jenes rätsel-
hafte Bild der minoischen Kunst gefunden zu haben glauben,
kann uns auch da und dort geäußerter Widerspruch nicht irre
machen1. Das gewichtigste Gegenargument2, es sei keine Ab-
fahrt, vielmehr Begrüßung und Ankunft gemeint, erscheint be-
denklich, und unseres Wissens hat auch noch niemand sonst das
Bild in diesem Sinne verstanden. Denn mit dem Heck gegen das
Ufer landete man nicht nur, sondern man fuhr auch so ab; Belege
dafür anzuführen dürfte sich erübrigen. Und die „Regel“, daß auf
kretisch-minoischen Siegeln die größeren figürlichen Kompositio-
nen, „soweit sie nicht nach der Mitte zu komponiert sind, alle im
Negativ von rechts nach links und im Abdruck von links nach rechts
laufen“, möchte ich bezweifeln. Wenn im jüngeren System der
kretischen Linearschrift die Zeichen stets nach rechts gekehrt sind,
und überhaupt die Rechtsläufigkeit dieser Schrift außer Frage steht3,
so ist das für die Anlage der Bilder ja noch nicht beweisend. Mit
Recht wendet sich Wölfflin in seinen lichtvollen Ausführungen
über das Rechts und Links im Bilde4 gegen die Meinung, „daß
unsere Kunst — im Sinne unserer Schrift — immer die Neigung
haben müßte, einen objektiven Bewegungszug (marschierende Sol-
daten, rennende Pferde) von links nach rechts sich entwickeln zu
lassen. So ist es nicht.“ Die Wirkungsgesetze aber, die er für die
klassische Kunst der neueren Zeit klarzulegen vermochte, haben
für diese primitive Stufe doch offensichtlich keine Geltung. In der
1 a. O. 27ff. Abb. 29—31. Zuletzt Karo, AM. 55, 1930, 119ff. Taf. 2, 3
Beilage 30, 1; Lippold, DLZ. 1933, 1893; Marinatos, BCH. 57, 1933, 179
Nr. 58 Taf. 16, 17 (S. 197, 227ff., ohne Kenntnis meiner Abhandlung; seine
Deutung — Fahrt von Menelaos und Helena nach den „Champs-Elysees“ —
würde jedenfalls dem allgemeinen Charakter dieser Denkmälerklasse am ehe-
sten entsprechen). Zustimmend geäußert haben sich manche Fachgenossen,
brieflich und mündlich; vgl. auch die Rezension von M. Bieber, Gnomon 11,
1935, 254ff., mit interessanten neuen Beobachtungen.
2 Schweitzer, DLZ. 1931, 72.
3 Karo, RE. XI 1763; Sundwall, RV. VII 98.
4 Münch. Jahrb. d. bild. Kunst NF. 5, 1928, 213ff.
Arnold von Saus :
nicht mehr als eine Erinnerung an einen Erzählungsstoff, den jedes
Kind auf Kreta kennt, in gedrängter symbolischer Form.
Mit anderen Worten: Liebeswerbung, Übergabe des rettenden
Fadens und Entführung zur See, alles ist hier wie in einem Brenn-
spiegel vereinigt, was uns der vielbesprochene Goldring von Tiryns,
in die einzelnen Etappen zerlegt, als „kontinuierliche“ Schilderung
vor Augen führt. Denn an der Deutung, die wir für jenes rätsel-
hafte Bild der minoischen Kunst gefunden zu haben glauben,
kann uns auch da und dort geäußerter Widerspruch nicht irre
machen1. Das gewichtigste Gegenargument2, es sei keine Ab-
fahrt, vielmehr Begrüßung und Ankunft gemeint, erscheint be-
denklich, und unseres Wissens hat auch noch niemand sonst das
Bild in diesem Sinne verstanden. Denn mit dem Heck gegen das
Ufer landete man nicht nur, sondern man fuhr auch so ab; Belege
dafür anzuführen dürfte sich erübrigen. Und die „Regel“, daß auf
kretisch-minoischen Siegeln die größeren figürlichen Kompositio-
nen, „soweit sie nicht nach der Mitte zu komponiert sind, alle im
Negativ von rechts nach links und im Abdruck von links nach rechts
laufen“, möchte ich bezweifeln. Wenn im jüngeren System der
kretischen Linearschrift die Zeichen stets nach rechts gekehrt sind,
und überhaupt die Rechtsläufigkeit dieser Schrift außer Frage steht3,
so ist das für die Anlage der Bilder ja noch nicht beweisend. Mit
Recht wendet sich Wölfflin in seinen lichtvollen Ausführungen
über das Rechts und Links im Bilde4 gegen die Meinung, „daß
unsere Kunst — im Sinne unserer Schrift — immer die Neigung
haben müßte, einen objektiven Bewegungszug (marschierende Sol-
daten, rennende Pferde) von links nach rechts sich entwickeln zu
lassen. So ist es nicht.“ Die Wirkungsgesetze aber, die er für die
klassische Kunst der neueren Zeit klarzulegen vermochte, haben
für diese primitive Stufe doch offensichtlich keine Geltung. In der
1 a. O. 27ff. Abb. 29—31. Zuletzt Karo, AM. 55, 1930, 119ff. Taf. 2, 3
Beilage 30, 1; Lippold, DLZ. 1933, 1893; Marinatos, BCH. 57, 1933, 179
Nr. 58 Taf. 16, 17 (S. 197, 227ff., ohne Kenntnis meiner Abhandlung; seine
Deutung — Fahrt von Menelaos und Helena nach den „Champs-Elysees“ —
würde jedenfalls dem allgemeinen Charakter dieser Denkmälerklasse am ehe-
sten entsprechen). Zustimmend geäußert haben sich manche Fachgenossen,
brieflich und mündlich; vgl. auch die Rezension von M. Bieber, Gnomon 11,
1935, 254ff., mit interessanten neuen Beobachtungen.
2 Schweitzer, DLZ. 1931, 72.
3 Karo, RE. XI 1763; Sundwall, RV. VII 98.
4 Münch. Jahrb. d. bild. Kunst NF. 5, 1928, 213ff.