42
Arnold von Salis:
Stiefel auf, und genau dieselben gibt es schon im zweiten vorchrist-
lichen Jahrtausend. Diese Fußbekleidung hat man sich wohl aus
hellem Leder zu denken, wie bei den Terrakotten aus Petsofa, wo
sie bald plastisch, bald in bloßer Malerei, stets jedoch in weißer oder
gelblicher Tönung wiedergegeben ist. Wir kennen die hellen Schaft-
stiefel ja auch von kretischen Gemälden1. Trotz der empfindlichen
Farbe muß es ein ungewöhnlich dauerhaftes Schuh werk sein, denn
es hat sich auf Kreta bis auf den heutigen Tag gehalten, und der
Schreiber dieser Zeilen hat es dort selber auch getragen. In diesen
hohen Schäften aber steckt nun ein merkwürdig haltloses Körper-
gewächs. Dem schlauchartig dehnbaren Rumpf mit der eingezoge-
nen Wespentaille und den fahrigen Armen ist es zu deutlich anzu-
sehen, daß er niemals durch jene Schule harten Drills gegangen ist,
welche die Männerfiguren des griechischen geometrischen Stils und
des Archaismus im Grunde nie verleugnen. Das hier ist ein echter
Nachkomme jener „schwankenden Gestalten“, wie sie auf mino-
ischen Wandgemälden und Reliefbildern ihr gar so bewegtes Wesen
treiben. Und man kann es wohl verstehen, wenn angesichts des
wirklich affenhaft behenden sogenannten Safranpflückers auf
einem knossischen Fresko der Glaube entstehen konnte, auch
„dieser ist ein Mensch gewesen“. Eine sonderbare Rasse ist es schon,
dieser Menschenschlag der Minosinsel. Alles aber, was sich über den
Mangel an körperlicher Tektonik von der Darstellung des Menschen
in der kretischen Kunst des zweiten Jahrtausends bemerken läßt2 *,
behält auch für unseren knickebeinigen Gesellen seine Geltung.
Im Gegensatz zu ihrem geschmeidigen Partner steht nun die
Frau in einer betont steifen und gezwungenen Haltung vor uns;
starr lotrecht und, bis auf den seitwärts gedrehten Kopf, bedingungs-
los frontal. Reide Arme im gleichen Winkel gebogen, die erhobenen
Hände in entsprechender Höhe ausgestreckt. Obwohl die Gebärde,
wie wir oben sahen, in unserem Fall eine ganz andere Auslegung
verlangt, ist es doch, rein äußerlich, jene in der minoischen Kunst
1 Terrakotten BSA. 9, 1902—03, 363 Taf. 9, 10; L. Curtius, Antike
Kunst II 46 Abb. 47. Stierspiel-Fresko aus Ivnossos Evans, Palace III 212
Abb. 144; Bossert Abb. 63; Curtius 41 Abb. 42. In der Form unserem Bei-
spiel wohl am nächsten die Lederstiefel des „Offiziers“ auf dem Steatitbecher
aus Hagia Triada Jdl. 30, 1915, 244 Abb. 1; Bossert Abb. 87.
2 Salis, Kunst d. Griechen 211, 16, 31. Siehe auch Rumpf in: Gercke-
Norden, Einleit, in d. Altertumswiss. II 34 S. 1 über die menschlichen Gestal-
ten, „die an die Meermollusken der Vasen in den geschwungenen Konturen
und den wie knochenlos gebogenen Gliedmaßen erinnern.“
Arnold von Salis:
Stiefel auf, und genau dieselben gibt es schon im zweiten vorchrist-
lichen Jahrtausend. Diese Fußbekleidung hat man sich wohl aus
hellem Leder zu denken, wie bei den Terrakotten aus Petsofa, wo
sie bald plastisch, bald in bloßer Malerei, stets jedoch in weißer oder
gelblicher Tönung wiedergegeben ist. Wir kennen die hellen Schaft-
stiefel ja auch von kretischen Gemälden1. Trotz der empfindlichen
Farbe muß es ein ungewöhnlich dauerhaftes Schuh werk sein, denn
es hat sich auf Kreta bis auf den heutigen Tag gehalten, und der
Schreiber dieser Zeilen hat es dort selber auch getragen. In diesen
hohen Schäften aber steckt nun ein merkwürdig haltloses Körper-
gewächs. Dem schlauchartig dehnbaren Rumpf mit der eingezoge-
nen Wespentaille und den fahrigen Armen ist es zu deutlich anzu-
sehen, daß er niemals durch jene Schule harten Drills gegangen ist,
welche die Männerfiguren des griechischen geometrischen Stils und
des Archaismus im Grunde nie verleugnen. Das hier ist ein echter
Nachkomme jener „schwankenden Gestalten“, wie sie auf mino-
ischen Wandgemälden und Reliefbildern ihr gar so bewegtes Wesen
treiben. Und man kann es wohl verstehen, wenn angesichts des
wirklich affenhaft behenden sogenannten Safranpflückers auf
einem knossischen Fresko der Glaube entstehen konnte, auch
„dieser ist ein Mensch gewesen“. Eine sonderbare Rasse ist es schon,
dieser Menschenschlag der Minosinsel. Alles aber, was sich über den
Mangel an körperlicher Tektonik von der Darstellung des Menschen
in der kretischen Kunst des zweiten Jahrtausends bemerken läßt2 *,
behält auch für unseren knickebeinigen Gesellen seine Geltung.
Im Gegensatz zu ihrem geschmeidigen Partner steht nun die
Frau in einer betont steifen und gezwungenen Haltung vor uns;
starr lotrecht und, bis auf den seitwärts gedrehten Kopf, bedingungs-
los frontal. Reide Arme im gleichen Winkel gebogen, die erhobenen
Hände in entsprechender Höhe ausgestreckt. Obwohl die Gebärde,
wie wir oben sahen, in unserem Fall eine ganz andere Auslegung
verlangt, ist es doch, rein äußerlich, jene in der minoischen Kunst
1 Terrakotten BSA. 9, 1902—03, 363 Taf. 9, 10; L. Curtius, Antike
Kunst II 46 Abb. 47. Stierspiel-Fresko aus Ivnossos Evans, Palace III 212
Abb. 144; Bossert Abb. 63; Curtius 41 Abb. 42. In der Form unserem Bei-
spiel wohl am nächsten die Lederstiefel des „Offiziers“ auf dem Steatitbecher
aus Hagia Triada Jdl. 30, 1915, 244 Abb. 1; Bossert Abb. 87.
2 Salis, Kunst d. Griechen 211, 16, 31. Siehe auch Rumpf in: Gercke-
Norden, Einleit, in d. Altertumswiss. II 34 S. 1 über die menschlichen Gestal-
ten, „die an die Meermollusken der Vasen in den geschwungenen Konturen
und den wie knochenlos gebogenen Gliedmaßen erinnern.“