Neue Darstellungen griechischer Sagen: II. Picenum.
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er. einer spontanen Eingebung folgend, seine neue Erklärung des
einen Hauptbildes unserer Stele, des stattlichen Segelschiffs, in
Vorschlag brachte1. Er vermutet darin eine Illustration, wenn auch
nicht des homerischen Skyllaabenteuers selbst, so doch eines jener
Schiffermärchen, wie sie das Meer in unerschöpflicher Fülle zu er-
zeugen pflegt, und von denen es in der Odyssee tatsächlich an so
mancher Stelle raunt und geistert. Eine solche Spukgeschichte
müßte der Erzählung von des Odysseus Begegnung mit dem See-
teufel zu Grunde liegen; letztere wäre somit gewissermaßen die
Überhöhung und poetische Veredelung eines volkstümlichen alten
Märchenmotivs. Man wird die Wahrscheinlichkeit eines derartigen
Vorgangs nicht bezweifeln; sie besteht auch dann, wenn die oben
erwähnte Erklärung des Novilara-Steins als Beweisstück auszu-
schalten wäre. Die Hypothese setzt voraus, daß das gewaltige Un-
getüm, das hinter dem Steuerruder sichtbar ist und mit seinen wil-
den Bewegungen die ganze obere linke Bildecke füllt, inhaltlich
zugehöre: das Biest greife die Besatzung des Schiffes an. Mit Recht
verwirft Regenbogen die von anderen gelegentlich geäußerte An-
sicht, das fragliche Wesen stelle einen Seedrachen dar, ein schlan-
genartiges Tier von einer phantastischen, organisch schlechterdings
nicht ausdenkbaren Körperbeschaffenheit, das dem Fahrzeug folge2.
Denn der vermeintliche Schlangenkopf rechts ist ja nichts weiter
als eine zufällige Vertiefung in der löcherigen Oberfläche des Steins,
dergleichen sich in der Mitte und in der rechten Hälfte der Stele eine
ganze Anzahl findet. In Wirklichkeit läuft das gewundene Band hier
in eine deutliche Spitze aus. Und da dies auch für das Gegenstück
am linken Ende zutrifft, so gleicht das seltsame Gebilde, seinem
Fmriß nach, in der Tat einem riesigen Kraken mit gierig suchenden
Uangarmen3, von denen der eine sich eben drohend über die Bord-
wand und die armen Ruderknechte hebt4.
1 Vgl. oben S. 5. Es ist zu hoffen, daß die in jenem Vortrag kurz skizzier-
te Geschichte eines antiken Sagenzuges bald ihre schriftliche Fixierung finden
werde; auf die lichtvolle Begründung kann hier nur eben hingewiesen werden.
2 So Gutscher a. O. 12, der von einer „großen Schlange“ spricht. Wir
sind so ketzerisch, an die Existenz der ominösen Seeschlange, auch des Unge-
heuers vom Loch Ness zu glauben, haben indes von ihrem Aussehen eine völlig
andere Vorstellung!
3 Schon Und set (oben S. 32), der sich übrigens jeder Deutung der „rätsel-
haften Figur“ enthält, beschreibt diese Teile unwillkürlich als „zwei lange ge-
bogene Arme“.
4 Freilich darf man die Haltung des Mannes neben dem Mast nicht als
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er. einer spontanen Eingebung folgend, seine neue Erklärung des
einen Hauptbildes unserer Stele, des stattlichen Segelschiffs, in
Vorschlag brachte1. Er vermutet darin eine Illustration, wenn auch
nicht des homerischen Skyllaabenteuers selbst, so doch eines jener
Schiffermärchen, wie sie das Meer in unerschöpflicher Fülle zu er-
zeugen pflegt, und von denen es in der Odyssee tatsächlich an so
mancher Stelle raunt und geistert. Eine solche Spukgeschichte
müßte der Erzählung von des Odysseus Begegnung mit dem See-
teufel zu Grunde liegen; letztere wäre somit gewissermaßen die
Überhöhung und poetische Veredelung eines volkstümlichen alten
Märchenmotivs. Man wird die Wahrscheinlichkeit eines derartigen
Vorgangs nicht bezweifeln; sie besteht auch dann, wenn die oben
erwähnte Erklärung des Novilara-Steins als Beweisstück auszu-
schalten wäre. Die Hypothese setzt voraus, daß das gewaltige Un-
getüm, das hinter dem Steuerruder sichtbar ist und mit seinen wil-
den Bewegungen die ganze obere linke Bildecke füllt, inhaltlich
zugehöre: das Biest greife die Besatzung des Schiffes an. Mit Recht
verwirft Regenbogen die von anderen gelegentlich geäußerte An-
sicht, das fragliche Wesen stelle einen Seedrachen dar, ein schlan-
genartiges Tier von einer phantastischen, organisch schlechterdings
nicht ausdenkbaren Körperbeschaffenheit, das dem Fahrzeug folge2.
Denn der vermeintliche Schlangenkopf rechts ist ja nichts weiter
als eine zufällige Vertiefung in der löcherigen Oberfläche des Steins,
dergleichen sich in der Mitte und in der rechten Hälfte der Stele eine
ganze Anzahl findet. In Wirklichkeit läuft das gewundene Band hier
in eine deutliche Spitze aus. Und da dies auch für das Gegenstück
am linken Ende zutrifft, so gleicht das seltsame Gebilde, seinem
Fmriß nach, in der Tat einem riesigen Kraken mit gierig suchenden
Uangarmen3, von denen der eine sich eben drohend über die Bord-
wand und die armen Ruderknechte hebt4.
1 Vgl. oben S. 5. Es ist zu hoffen, daß die in jenem Vortrag kurz skizzier-
te Geschichte eines antiken Sagenzuges bald ihre schriftliche Fixierung finden
werde; auf die lichtvolle Begründung kann hier nur eben hingewiesen werden.
2 So Gutscher a. O. 12, der von einer „großen Schlange“ spricht. Wir
sind so ketzerisch, an die Existenz der ominösen Seeschlange, auch des Unge-
heuers vom Loch Ness zu glauben, haben indes von ihrem Aussehen eine völlig
andere Vorstellung!
3 Schon Und set (oben S. 32), der sich übrigens jeder Deutung der „rätsel-
haften Figur“ enthält, beschreibt diese Teile unwillkürlich als „zwei lange ge-
bogene Arme“.
4 Freilich darf man die Haltung des Mannes neben dem Mast nicht als