Neue Darstellungen griechischer, Sagen: II. Picenum.
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des Schlangenfüßers zurückzugehen scheint* 1. Bei Homer sind die
originalen Züge bereits weitgehend verwischt; auf der Novilara-
Stele würde sich, die Möglichkeit der obigen Deutung zugegeben,
das Gespenst der Sage noch in den Formenschatz einer jüngeren
Zeit hinübergerettet haben.
Freilich, ein arg verkümmerter Polyp! Von seinen Fangarmen
hätte er, bis auf zwei, sämtliche eingebüßt: im Kampf mit anderem
Tierzeug, oder durch Selbstverstümmelung ? Die Geschichte vom
Kraken, der aus Hunger seine eigenen Glieder verzehrt, die dann
durch Regeneration sich wieder ergänzen können, hat auch in das
wissenschaftliche Schrifttum des Altertums Eingang gefunden2.
Wer dächte dabei nicht an die zehn kleinen Negerbuben ? Aber
solche Scherze traut man dem Künstler unserer Stele doch wohl
nicht zu. Er müßte also sein Vorbild gründlich vereinfacht und,
was gerade bei ihm ja nicht weiter verwundern würde, völlig miß-
verstanden haben. Letzteres übrigens auf jeden Fall, hat er doch an
einen Polypen ganz sicher nicht gedacht. Was wir auf der Stele vor
uns sehen, ist nämlich nicht ein einzelnes Lebewesen, sondern es
sind deren drei! Ich erkenne ein paar große Schlangen, der Mitte
zugekehrt, die gemeinsam ein vierfüßiges Tier an den Hinterbeinen
packen. Die Schlangenköpfe sind als solche gut charakterisiert, und
bei dem Exemplar links — bei seinem Gegenstück hat die Ober-
fläche des Steins an dieser Stelle gelitten — sind auch auf dem
Lichtbild die beiden eingetieften Augen deutlich sichtbar. Um die
Natur des Opfers zu bestimmen, reichen allerdings unsere zoologi-
schen Kenntnisse nicht aus; ein größeres Säugetier würde diese
Kunst kaum in Draufsicht wiedergeben. Vier Füße, ein vorgestreck-
ter rundlicher Kopf, der Leib breit und flach, stumpf zugespitzt
das Hinterteil: vielleicht eine Schildkröte? Daß der Umriß der
Rückenschale nicht ausgezogen ist, entspräche den Gewohnheiten
ten. Der Höhepunkt ist die Geschichte von der Landung auf einer kleinen,
flachen Insel, die plötzlich anfing, sich zu bewegen — es war ein „Kraken“,
der in die Tiefe versank.“ L. Heck, Fabeltiere oder nicht?, Berliner 111. Ztg.
1935, 654, der dann aber von sehr ernsthaften Abenteuern mit Riesenpolypen
berichtet.
1 Tümpel, Der mykenische Polyp u. die Hydra, in: Festschrift für
J. Overbeck 144ff. (die „Köpfe“ seien bei der Hydra an Stelle der Saugnäpfe
der Arme getreten); O. Keller, Die antike Tierwelt II 508. Die später kano-
nisch werdende Neunzahl der Köpfe ist erst gegen Ende des siebten Jahrhun-
derts nachzuweisen; Hampe, Frühe griechische Sagenbilder 42.
2 O. Keller, a. O. 510.
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des Schlangenfüßers zurückzugehen scheint* 1. Bei Homer sind die
originalen Züge bereits weitgehend verwischt; auf der Novilara-
Stele würde sich, die Möglichkeit der obigen Deutung zugegeben,
das Gespenst der Sage noch in den Formenschatz einer jüngeren
Zeit hinübergerettet haben.
Freilich, ein arg verkümmerter Polyp! Von seinen Fangarmen
hätte er, bis auf zwei, sämtliche eingebüßt: im Kampf mit anderem
Tierzeug, oder durch Selbstverstümmelung ? Die Geschichte vom
Kraken, der aus Hunger seine eigenen Glieder verzehrt, die dann
durch Regeneration sich wieder ergänzen können, hat auch in das
wissenschaftliche Schrifttum des Altertums Eingang gefunden2.
Wer dächte dabei nicht an die zehn kleinen Negerbuben ? Aber
solche Scherze traut man dem Künstler unserer Stele doch wohl
nicht zu. Er müßte also sein Vorbild gründlich vereinfacht und,
was gerade bei ihm ja nicht weiter verwundern würde, völlig miß-
verstanden haben. Letzteres übrigens auf jeden Fall, hat er doch an
einen Polypen ganz sicher nicht gedacht. Was wir auf der Stele vor
uns sehen, ist nämlich nicht ein einzelnes Lebewesen, sondern es
sind deren drei! Ich erkenne ein paar große Schlangen, der Mitte
zugekehrt, die gemeinsam ein vierfüßiges Tier an den Hinterbeinen
packen. Die Schlangenköpfe sind als solche gut charakterisiert, und
bei dem Exemplar links — bei seinem Gegenstück hat die Ober-
fläche des Steins an dieser Stelle gelitten — sind auch auf dem
Lichtbild die beiden eingetieften Augen deutlich sichtbar. Um die
Natur des Opfers zu bestimmen, reichen allerdings unsere zoologi-
schen Kenntnisse nicht aus; ein größeres Säugetier würde diese
Kunst kaum in Draufsicht wiedergeben. Vier Füße, ein vorgestreck-
ter rundlicher Kopf, der Leib breit und flach, stumpf zugespitzt
das Hinterteil: vielleicht eine Schildkröte? Daß der Umriß der
Rückenschale nicht ausgezogen ist, entspräche den Gewohnheiten
ten. Der Höhepunkt ist die Geschichte von der Landung auf einer kleinen,
flachen Insel, die plötzlich anfing, sich zu bewegen — es war ein „Kraken“,
der in die Tiefe versank.“ L. Heck, Fabeltiere oder nicht?, Berliner 111. Ztg.
1935, 654, der dann aber von sehr ernsthaften Abenteuern mit Riesenpolypen
berichtet.
1 Tümpel, Der mykenische Polyp u. die Hydra, in: Festschrift für
J. Overbeck 144ff. (die „Köpfe“ seien bei der Hydra an Stelle der Saugnäpfe
der Arme getreten); O. Keller, Die antike Tierwelt II 508. Die später kano-
nisch werdende Neunzahl der Köpfe ist erst gegen Ende des siebten Jahrhun-
derts nachzuweisen; Hampe, Frühe griechische Sagenbilder 42.
2 O. Keller, a. O. 510.