200 J. Koch und H. Teske Cusanus-Texte: I. Predigten, 6.
fassende Weisheit Gottes verborgen liegt. Wir werden sehen, wie
Cusanus das in wahrhaft hervorragender Weise zeigt.
Haben unsere erläuternden Anmerkungen zu dem Text des
lateinischen Entwurfs und der .deutschen Auslegung die ständige
Übereinstimmung zwischen beiden in den Einzelheiten der Erklä-
rung dargetan, so ergibt sich aus der hier angestellten Analyse des
'Ausgangspunktes’, daß beide Auslegungen identisch sind. Wir
können noch hinzufügen, daß Nicolaus auch den verstandes-
mäßigen Aufstieg zum dreieinigen Ursprung, der in dem lateini-
schen Entwurf der Vaterunser-Auslegung vorangeht, in die deut-
sche Erklärung fast ganz einarbeitet, natürlich in einer etwas an-
deren Betonung1.
Ist nun die deutsche Vaterunser-Auslegung als Predigt an-
zusehen in dem Sinne, daß sie uns ein unmittelbares Bild von
den Ausführungen gibt, die Cusanus im Augsburger Dom ge-
macht hat ? Hier ist sehr zu beachten, daß der Kardinal sein
Werk nicht als Predigt, sondern nur als Auslegung bezeich-
net; derselben Bezeichnung begegnen wir in der besten Hs.
Tr, während es im Inhaltsverzeichnis von T als Sermo bezeich-
net ist2. Dazu kommt nun, daß die Vaterunser-Erklärung, wie
der Entwurf zeigt, nur einen Teil der Augsburger Predigt darstellt;
und es ist nicht anzunehmen, daß Nicolaus auf die geistvolle Ent-
wickelung des dreifachen Aufstiegs vom Sinnfälligen aus, deren
Höhepunkt die Vaterunser-Erklärung bildet, verzichtet hat. Im
Gegenteil ist zu vermuten, daß diese Erklärung einen so tiefen
Eindruck auf den Bischof von Augsburg machte, weil sie psycho-
logisch so gut vorbereitet war. Endlich ist kaum anzunehmen, daß
der Prediger im mündlichen Vortrag die Gedanken über den Namen
Jesu, die in seinem Entwurf den zweiten Hauptteil bilden, ganz
unterdrückt hat. Denn sie betreffen ja den eigentlichen Gegen-
stand des Festes, an dem die Predigt stattfand, und sind so schlicht
und volkstümlich gehalten, daß auch die Zuhörer, denen der erste
Teil der Predigt zu hoch war, etwas mit nach Hause nehmen
konnten.
Läßt sich also nicht behaupten, daß die Vaterunser-Auslegung
eine genaue Wiedergabe der Augsburger Neujahrspredigt ist, so
verdient sie doch in einem weiteren Sinn den Namen 'Predigt’, weil
sie uns offenbar weithin eine Vorstellung von dem mündlichen Vor-
1 Vgl. die Anm. zu S. 44, 11—21 und 30, 6—15.
2 Vgl. S. 24 Anm. 2.
fassende Weisheit Gottes verborgen liegt. Wir werden sehen, wie
Cusanus das in wahrhaft hervorragender Weise zeigt.
Haben unsere erläuternden Anmerkungen zu dem Text des
lateinischen Entwurfs und der .deutschen Auslegung die ständige
Übereinstimmung zwischen beiden in den Einzelheiten der Erklä-
rung dargetan, so ergibt sich aus der hier angestellten Analyse des
'Ausgangspunktes’, daß beide Auslegungen identisch sind. Wir
können noch hinzufügen, daß Nicolaus auch den verstandes-
mäßigen Aufstieg zum dreieinigen Ursprung, der in dem lateini-
schen Entwurf der Vaterunser-Auslegung vorangeht, in die deut-
sche Erklärung fast ganz einarbeitet, natürlich in einer etwas an-
deren Betonung1.
Ist nun die deutsche Vaterunser-Auslegung als Predigt an-
zusehen in dem Sinne, daß sie uns ein unmittelbares Bild von
den Ausführungen gibt, die Cusanus im Augsburger Dom ge-
macht hat ? Hier ist sehr zu beachten, daß der Kardinal sein
Werk nicht als Predigt, sondern nur als Auslegung bezeich-
net; derselben Bezeichnung begegnen wir in der besten Hs.
Tr, während es im Inhaltsverzeichnis von T als Sermo bezeich-
net ist2. Dazu kommt nun, daß die Vaterunser-Erklärung, wie
der Entwurf zeigt, nur einen Teil der Augsburger Predigt darstellt;
und es ist nicht anzunehmen, daß Nicolaus auf die geistvolle Ent-
wickelung des dreifachen Aufstiegs vom Sinnfälligen aus, deren
Höhepunkt die Vaterunser-Erklärung bildet, verzichtet hat. Im
Gegenteil ist zu vermuten, daß diese Erklärung einen so tiefen
Eindruck auf den Bischof von Augsburg machte, weil sie psycho-
logisch so gut vorbereitet war. Endlich ist kaum anzunehmen, daß
der Prediger im mündlichen Vortrag die Gedanken über den Namen
Jesu, die in seinem Entwurf den zweiten Hauptteil bilden, ganz
unterdrückt hat. Denn sie betreffen ja den eigentlichen Gegen-
stand des Festes, an dem die Predigt stattfand, und sind so schlicht
und volkstümlich gehalten, daß auch die Zuhörer, denen der erste
Teil der Predigt zu hoch war, etwas mit nach Hause nehmen
konnten.
Läßt sich also nicht behaupten, daß die Vaterunser-Auslegung
eine genaue Wiedergabe der Augsburger Neujahrspredigt ist, so
verdient sie doch in einem weiteren Sinn den Namen 'Predigt’, weil
sie uns offenbar weithin eine Vorstellung von dem mündlichen Vor-
1 Vgl. die Anm. zu S. 44, 11—21 und 30, 6—15.
2 Vgl. S. 24 Anm. 2.