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Nikolaus [Hrsg.]; Koch, Josef [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1938/39, 4. Abhandlung): Die Auslegung des Vaterunsers in vier Predigten — Heidelberg, 1940

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https://doi.org/10.11588/diglit.41999#0253
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Drittes Kapitel: Erläuterungen. §6.

253

Die zweite Reihe der Unterscheidungen geht aus von be-
stimmten Eigenschaften, die den einzelnen Naturen eigentüm-
lich sind und sie von den übrigen abheben. Eine ganze Skala
solcher Eigenschaften finden wir in 32, 9 ff. Zu oberst steht die
verjtenteliche oder verftendige n. (= intellectualis n. 56, 4 —■ 58, 7*;
Pr. 134, S. 80, 17), dann folgen die vernuftige oder redeliche1 (-
rationalis n. Pr. 134, S. 82, 8), die jinliche (= n. sensitiva 32, 9 bis
15*, sensibilis n. 50, 14—18*), die bewegliche lebendige (= vegeta-
tiva n. 32, 9—15*)2 und endlich die vnderjte, die in der lateinischen
Parallelstelle als elementativa bezeichnet wird. Die erste Natur ist
in den Engeln, die zweite in den Menschen, die dritte in den
Tieren, die vierte in den Pflanzen, die fünfte in den Elementen
und den Dingen, die aus ihnen gebildet sind (50, 10 f.). Nun sind
sie so übereinander geordnet, daß jede höhere Natur die niederen
virtuell umschließt: die bewegliche n. hat in sich die vnderjte demen-
ten, die jinliche n. die bewegliche (und damit natürlich auch die der
Elemente), die vernuftige n. umschließt die fynlich (wie sich das
beim Menschen zeigt), die verjtendige n. die redeliche und damit
alle andern, so daß das allgemeine Gesetz -— auf welches es Cu-
sanus besonders ankommt — lautet: die oberjten creaturen . . .
haben in irer macht die vnderjten (32, 8).
Die wichtigste Unterscheidung in obiger Skala ist die von ver-
ftenteliche (34, 3. 9; 50, 15; 52, 18) und jynlich n. (50, 11; 52, 13.
17). Vereint sind beide in der menfchlich n. (52, 18). Die Trag-
1 Redelich, das in den Mystikertexten häufig- vorkommt, scheint zur Zeit
des Gusanus nicht mehr recht lebendig gewesen zu sein; er gebraucht es nur
32, 15, während redelicheit (wie auch bejcheidenheit) überhaupt fehlt. Der Sinn
des Adjektivs ergibt sich aus dem Zusammenhang. Es ist synonym mit ver-
nuftig. Denn wenn es heißt: die vernuftige n. begrijfft die fynlich, so kann das
nur von dem Verstand als diskursivem Vermögen gesagt werden. Diskursives
Erkennen setzt Abstraktion voraus, und Abstraktion Sinneserkenntnis. Der
verftentelichen n. ist das intuitive Erkennen eigentümlich; weil dieses aber die
höhere Form ist, so schließt es die niedere virtuell ein.
2 Die für uns merkwürdige Kennzeichnung der pflanzlichen Natur als
beweglich (32, 10. 12; 50, 11) geht wohl auf eine falsche Etymologie zurück.
Vegetativus wird in deutschen Iiss. des 14. und 15. Jhd.s häufig vehetativus
geschrieben. So hat man jenes Wort wohl mit veho in Zusammenhang ge-
bracht und entsprechend übersetzt. Vgl. auch L. Diefenbach, Glossarium
Latino-Germanicum mediae et infimae aetatis, 1857, s. v. vegetatio. Das Wort
beweglich scheint aber nicht lange im Sprachgebrauch geblieben zu sein.
Berthold von Chiemsee z. B. gebraucht in seiner „Tewtschen Theologey“
(1528, neu hrsg. von W. Reithmeier, 1852) stattdessen das lateinische
Synonymon.
 
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