Drittes Kapitel: Erläuterungen. §6.
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Cusanus bezeichnet sie als jchalckhaftig (84, 13 = saeculum ne-
quam), bedrogen (84, 13 = mundus mendosus; vgl. fallax deceptio
huius mundi 86, 16—20*), boefe (86, 12 — in maligno positus 86,
16—20*). Besonders beachtenswert ist die Gedankenentwicklung
86, 20 ff. Dieses irdische Leben ist Gefangenschaft in der sinn-
lichen Welt, in dem Tempel des Leibes (= in jyme fleijchlichen
tempel 86, 23); wer nun wahre Gottesliebe hat, dem ist dies Leben
so leid, das yn bedunckt in yme jnoden, duyjtern, unreinen kerker
gefangen jyn (88, lf.). Der Gedanke, das irdische Leben sei eine
Gefangenschaft, ist echt platonisch; man denke nur an das Höhlen-
gleichnis im „Staat“. Cusanus genügt aber diese Feststellung
nicht, er häuft die Adjektiva, um das Elend der verderbten Welt
möglichst eindringlich zu schildern. Umso stärker wird der An-
trieb, die Erlösung vom Übel zu erbitten.
Werfen wir von hier aus einen kurzen Blick auf die Wiener
Predigt, so sieht man, daß von dem philosophischen Gehalt der
Augsburger Auslegung kaum etwas übrig geblieben ist. Von dem
platonischen Dualismus ist nicht mehr die Bede. Statt der Gegen-
überstellung von hymelen und ertrich in dem früher bestimmten
Sinne finden wir die von dem eilend difer wellt und dem vaterlant
(118, 12; vgl. 98, lf.), von dem jamertal und den ewigen freuden
(98^ 25), von dem zergankchleichen, gegnburtigen reich dijer werlt
zu dem ewigen reich gots (106, 6. 7. 14). Dementsprechend fehlen
auch sozusagen alle Adjektiva, die für die Augsburger Auslegung
so charakteristisch sind, und wo sie verwendet werden, finden sie
eine andere Verwendung als dort. Eine kurze Zusammenstellung
zeigt das:
hymlilch: vater 98, 9. 23.
geiftleich: prat 108, 25; 112, 3; glider der heyligen Romijchen kirchen
110, 25; recht 116, 29.
leipleich: Speis 112, 23; prat 114, 3.
jichtig: j. leipliche dinng 112, 20.
Auf wessen Konto ist dieser Wegfall entscheidender Ideen und
der mit ihr verbundenen Terminologie zu setzen ? Hat der Schrei-
ber so wenig verstanden und darum so schlecht reportiert ? Das
ist kaum anzunehmen. Wohl mögen ihm manche Pointen ent-
gangen sein, aber soll er für den cusanischen Dualismus, der sich
einem bei der Augsburger Auslegung geradezu aufdrängt, kein Ohr
gehabt haben ? So kann man wohl nur annehmen, daß der Pre-
diger selbst seine Auslegung vereinfacht und vergröbert hat.
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Cusanus bezeichnet sie als jchalckhaftig (84, 13 = saeculum ne-
quam), bedrogen (84, 13 = mundus mendosus; vgl. fallax deceptio
huius mundi 86, 16—20*), boefe (86, 12 — in maligno positus 86,
16—20*). Besonders beachtenswert ist die Gedankenentwicklung
86, 20 ff. Dieses irdische Leben ist Gefangenschaft in der sinn-
lichen Welt, in dem Tempel des Leibes (= in jyme fleijchlichen
tempel 86, 23); wer nun wahre Gottesliebe hat, dem ist dies Leben
so leid, das yn bedunckt in yme jnoden, duyjtern, unreinen kerker
gefangen jyn (88, lf.). Der Gedanke, das irdische Leben sei eine
Gefangenschaft, ist echt platonisch; man denke nur an das Höhlen-
gleichnis im „Staat“. Cusanus genügt aber diese Feststellung
nicht, er häuft die Adjektiva, um das Elend der verderbten Welt
möglichst eindringlich zu schildern. Umso stärker wird der An-
trieb, die Erlösung vom Übel zu erbitten.
Werfen wir von hier aus einen kurzen Blick auf die Wiener
Predigt, so sieht man, daß von dem philosophischen Gehalt der
Augsburger Auslegung kaum etwas übrig geblieben ist. Von dem
platonischen Dualismus ist nicht mehr die Bede. Statt der Gegen-
überstellung von hymelen und ertrich in dem früher bestimmten
Sinne finden wir die von dem eilend difer wellt und dem vaterlant
(118, 12; vgl. 98, lf.), von dem jamertal und den ewigen freuden
(98^ 25), von dem zergankchleichen, gegnburtigen reich dijer werlt
zu dem ewigen reich gots (106, 6. 7. 14). Dementsprechend fehlen
auch sozusagen alle Adjektiva, die für die Augsburger Auslegung
so charakteristisch sind, und wo sie verwendet werden, finden sie
eine andere Verwendung als dort. Eine kurze Zusammenstellung
zeigt das:
hymlilch: vater 98, 9. 23.
geiftleich: prat 108, 25; 112, 3; glider der heyligen Romijchen kirchen
110, 25; recht 116, 29.
leipleich: Speis 112, 23; prat 114, 3.
jichtig: j. leipliche dinng 112, 20.
Auf wessen Konto ist dieser Wegfall entscheidender Ideen und
der mit ihr verbundenen Terminologie zu setzen ? Hat der Schrei-
ber so wenig verstanden und darum so schlecht reportiert ? Das
ist kaum anzunehmen. Wohl mögen ihm manche Pointen ent-
gangen sein, aber soll er für den cusanischen Dualismus, der sich
einem bei der Augsburger Auslegung geradezu aufdrängt, kein Ohr
gehabt haben ? So kann man wohl nur annehmen, daß der Pre-
diger selbst seine Auslegung vereinfacht und vergröbert hat.