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Otto Weinreich :
„gemeinsame Quelle“ geschlossen haben, in der Meinung, daß
Römerdichtung von Griechen nicht gelesen wurde. Quintus sollte
den Virgil, Nonnos den Ovid, Lukian den Horaz nicht benutzt
haben usw. Doch darin haben wir jetzt umgelernt. Unlängst wurde
in Antinoe ein Stück eines Pergamentcodex Juvenals in byzan-
tinischer Unziale um 500 gefunden, mit elementaren Scholien für
den Unterricht in Ägypten, mit griechischen Erklärungen und
Lesezeichen1. Das muß uns im Umlernen bestärken. Was Juvenal
recht ist, kann freilich nicht ohne weiteres für Martial billig sein,
der keine Schullektüre war. Allein warum soll der Gebildete im
Osten od-er Süden des Reiches, ein Dichter, der selbst Epigramme
macht, sofern er überhaupt Römer las, an Martial, der alle Grae-
culi doch turmhoch überragt, achtlos vorübergegangen sein ? Ich
meine also: für unsern Fall ist „gemeinsames Vorbild“ nicht die
einzige Lösung. Julianus der Ägypter kann das Parisepigramm
gekannt und benutzt haben2. Dann hätten wir zwei Nachwirkun-
gen davon aufgedeckt, die andere war beim Bischof Apollinaris
Sidonius (s. o. S. 15).
III.
Gedichte, die gut sind, Verse, die eindrucksvoll geprägt sind,
haben ein langes Leben3. Martial hat einen schönen Virgilvers neu
gefaßt, und Catulls berühmte Nänie auf den passer, der deliciae
meae puellae gewesen, ist für die Klage Roms um Paris, der Urbis
1 Roberts, Journ. Egypt. archaeol. 21 (1935), 199ff.; Lommatzsch,
Bursians Jahresber., Bd. 260, 103; Knoche, Philol. Suppl. 33 I 40.
2 Das oben S. 11 behandelte Scorpusepigramm X 53 hat seine nächste
und auffallende Parallele wiederum bei einem anonymen Byzantiner der
Planudea (AP XVI 338). Weil Martial kunstreicher, der Anonymus schlichter
ist, setzt Schmoock. 30 eine Vorlage schlichter Art an, die Martial verkünstelt,
der Byzantiner in ihrer ursprünglichen Art beibehalten habe. Als ob ein
Spätling eine künstliche Form nicht auch von sich aus hätte vereinfachen
können. Vorausgesetzt natürlich, daß dieser den Martial gekannt hat, was
ich hier nicht für so wahrscheinlich halte wie bei Julian.
3 Hier zwei späte Nachklänge des Paris-Epigramms: Curtio Marignollio
Patritio Florentino, cum quo sales, hilaHtas et ioci periere. Anno MDCVI
(Grabschrift des Florentiner Novellisten Marignoli, cf. Scelta di curiositä
letterarie 111 S. 7 u. 94). Auf Ablancourt (1606—1664) dichtete E.M. Kuh
(der auch viel aus Martial übersetzt hat) sein 136. Sinngedicht (Hinterlassene
Gedichte, Zürich 1792 S. 198): Ablancourts Grabschrift.
Hier lieget Ablancourt, der Weisheit Zierd und Ruhm.
Und mit ihm Rom, Athen, das ganze Altherthum.
Otto Weinreich :
„gemeinsame Quelle“ geschlossen haben, in der Meinung, daß
Römerdichtung von Griechen nicht gelesen wurde. Quintus sollte
den Virgil, Nonnos den Ovid, Lukian den Horaz nicht benutzt
haben usw. Doch darin haben wir jetzt umgelernt. Unlängst wurde
in Antinoe ein Stück eines Pergamentcodex Juvenals in byzan-
tinischer Unziale um 500 gefunden, mit elementaren Scholien für
den Unterricht in Ägypten, mit griechischen Erklärungen und
Lesezeichen1. Das muß uns im Umlernen bestärken. Was Juvenal
recht ist, kann freilich nicht ohne weiteres für Martial billig sein,
der keine Schullektüre war. Allein warum soll der Gebildete im
Osten od-er Süden des Reiches, ein Dichter, der selbst Epigramme
macht, sofern er überhaupt Römer las, an Martial, der alle Grae-
culi doch turmhoch überragt, achtlos vorübergegangen sein ? Ich
meine also: für unsern Fall ist „gemeinsames Vorbild“ nicht die
einzige Lösung. Julianus der Ägypter kann das Parisepigramm
gekannt und benutzt haben2. Dann hätten wir zwei Nachwirkun-
gen davon aufgedeckt, die andere war beim Bischof Apollinaris
Sidonius (s. o. S. 15).
III.
Gedichte, die gut sind, Verse, die eindrucksvoll geprägt sind,
haben ein langes Leben3. Martial hat einen schönen Virgilvers neu
gefaßt, und Catulls berühmte Nänie auf den passer, der deliciae
meae puellae gewesen, ist für die Klage Roms um Paris, der Urbis
1 Roberts, Journ. Egypt. archaeol. 21 (1935), 199ff.; Lommatzsch,
Bursians Jahresber., Bd. 260, 103; Knoche, Philol. Suppl. 33 I 40.
2 Das oben S. 11 behandelte Scorpusepigramm X 53 hat seine nächste
und auffallende Parallele wiederum bei einem anonymen Byzantiner der
Planudea (AP XVI 338). Weil Martial kunstreicher, der Anonymus schlichter
ist, setzt Schmoock. 30 eine Vorlage schlichter Art an, die Martial verkünstelt,
der Byzantiner in ihrer ursprünglichen Art beibehalten habe. Als ob ein
Spätling eine künstliche Form nicht auch von sich aus hätte vereinfachen
können. Vorausgesetzt natürlich, daß dieser den Martial gekannt hat, was
ich hier nicht für so wahrscheinlich halte wie bei Julian.
3 Hier zwei späte Nachklänge des Paris-Epigramms: Curtio Marignollio
Patritio Florentino, cum quo sales, hilaHtas et ioci periere. Anno MDCVI
(Grabschrift des Florentiner Novellisten Marignoli, cf. Scelta di curiositä
letterarie 111 S. 7 u. 94). Auf Ablancourt (1606—1664) dichtete E.M. Kuh
(der auch viel aus Martial übersetzt hat) sein 136. Sinngedicht (Hinterlassene
Gedichte, Zürich 1792 S. 198): Ablancourts Grabschrift.
Hier lieget Ablancourt, der Weisheit Zierd und Ruhm.
Und mit ihm Rom, Athen, das ganze Altherthum.