1. Nicolaus Cusanus und Ps. Dionysius im Lichte der Zitate
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seiner Schriften eine Theologia „per disiunctionem“ lehre, d. h. daß
er entweder affirmativ oder negativ zu Gott emporsteige. Dage-
gen in dem Werk Mystica theologia, wo es ihm darauf ankomme,
die mystische und geheime (secreta) Theologie möglichst offenbar
zu machen, erhebe er sich über diese Disjunction empor bis zur copu-
latio et coincidentia seu unio simplicissima. Diese, so sagt er, ist
nicht lateral, sondern direkt, gerade, über jede ablatio und positio
hinaus, in ihr fallen ablatio und positio, Negation und Affirmation,
zusammen. Zu dieser mystischen Theologie und zur mystischen
Schau kann man nicht kommen, solange man sich auf dem Felde
der ratio discurrens bewegt (Apologia 28, 16f.). Wer also mystische
Theologie treiben will, der muß sich über alle ratio hinaus, ja sich
selbst zurücklassend, in diese caligo stürzen. In dieser Region des
intellectus videns (Apologia 28,16) erfahren wir, daß der logisch
unmögliche Satz, daß Sein und Nichtsein zugleich seien, geraden-
wegs Notwendigkeit ist („impossibilitas est ipsa vera necessitas“.
Vansteenberghe 114—15), die confusio wird zur Gewißheit, der
Nebel zum Licht, die LInwissenheit zum Wissen (ebd. S. 115) —·
alles Dionysische Gedanken.
Sehr prägnant drückt der Cusaner denselben Gedanken aus
in RB 269 zum Kommentar des Albertus Magnus zu De divinis
nominibus (cod. cus. 46f. 105rl3 u. R), die aus derselben Zeit stam-
men mag wie der eben angeführte Brief. In dieser Randbemerkung
sagt er: ,,Videtur quod Albertus etpaene omnes in hoc deficiant,
quod timeant semper intrare caliginem, quae consistit in
admissione contradictoriorum; nam hoc ratio refugit et
timet subintrare et ob hoc vitando caliginem non pertingit ad visio-
nem invisibilis. Si praesupponeret id esse necessarium, quod sibi
occurrit impossibile, et intraret ignote tenebras illas, reperiret
indubie impossibilitatem necessitatem esse et tenebras lucem.“ —-
Die gleiche Erklärung enthält De visione Dei [1453] c. 9 (1453):
,,Necesse est me intrare caliginem et admittere coincidentiam oppo-
sitorum“. (I, 103v) Ebd. c. 10.
Bei Ps. Dionysius geht dieser Begriff des Nebels im Zusam-
menhang mit der Lehre von der Gotteserkenntnis zurück auf bibli-
sche Vorgänge, wie Exodus 19, 9 u. 20, 21 über das Eintreten des
Moses in den Nebel, in dem er Gott findet. Dies geht mit Sicher-
heit hervor aus Apologia 19, 26 bis 20, 3, wo es heißt: „Nam id,
quod improperat, quaeritur in docta ignorantia, ubi Dionysius
noster ... in mystica theologia sic cum Moyse in caliginem ascen-
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seiner Schriften eine Theologia „per disiunctionem“ lehre, d. h. daß
er entweder affirmativ oder negativ zu Gott emporsteige. Dage-
gen in dem Werk Mystica theologia, wo es ihm darauf ankomme,
die mystische und geheime (secreta) Theologie möglichst offenbar
zu machen, erhebe er sich über diese Disjunction empor bis zur copu-
latio et coincidentia seu unio simplicissima. Diese, so sagt er, ist
nicht lateral, sondern direkt, gerade, über jede ablatio und positio
hinaus, in ihr fallen ablatio und positio, Negation und Affirmation,
zusammen. Zu dieser mystischen Theologie und zur mystischen
Schau kann man nicht kommen, solange man sich auf dem Felde
der ratio discurrens bewegt (Apologia 28, 16f.). Wer also mystische
Theologie treiben will, der muß sich über alle ratio hinaus, ja sich
selbst zurücklassend, in diese caligo stürzen. In dieser Region des
intellectus videns (Apologia 28,16) erfahren wir, daß der logisch
unmögliche Satz, daß Sein und Nichtsein zugleich seien, geraden-
wegs Notwendigkeit ist („impossibilitas est ipsa vera necessitas“.
Vansteenberghe 114—15), die confusio wird zur Gewißheit, der
Nebel zum Licht, die LInwissenheit zum Wissen (ebd. S. 115) —·
alles Dionysische Gedanken.
Sehr prägnant drückt der Cusaner denselben Gedanken aus
in RB 269 zum Kommentar des Albertus Magnus zu De divinis
nominibus (cod. cus. 46f. 105rl3 u. R), die aus derselben Zeit stam-
men mag wie der eben angeführte Brief. In dieser Randbemerkung
sagt er: ,,Videtur quod Albertus etpaene omnes in hoc deficiant,
quod timeant semper intrare caliginem, quae consistit in
admissione contradictoriorum; nam hoc ratio refugit et
timet subintrare et ob hoc vitando caliginem non pertingit ad visio-
nem invisibilis. Si praesupponeret id esse necessarium, quod sibi
occurrit impossibile, et intraret ignote tenebras illas, reperiret
indubie impossibilitatem necessitatem esse et tenebras lucem.“ —-
Die gleiche Erklärung enthält De visione Dei [1453] c. 9 (1453):
,,Necesse est me intrare caliginem et admittere coincidentiam oppo-
sitorum“. (I, 103v) Ebd. c. 10.
Bei Ps. Dionysius geht dieser Begriff des Nebels im Zusam-
menhang mit der Lehre von der Gotteserkenntnis zurück auf bibli-
sche Vorgänge, wie Exodus 19, 9 u. 20, 21 über das Eintreten des
Moses in den Nebel, in dem er Gott findet. Dies geht mit Sicher-
heit hervor aus Apologia 19, 26 bis 20, 3, wo es heißt: „Nam id,
quod improperat, quaeritur in docta ignorantia, ubi Dionysius
noster ... in mystica theologia sic cum Moyse in caliginem ascen-