Metadaten

Dibelius, Martin; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1941/42, 2. Abhandlung): Rom und die Christen im ersten Jahrhundert — Heidelberg, 1942

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.42027#0041
License: Free access  - all rights reserved
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Rom und die Christen im ersten Jahrhundert

41

der Dinge entnommen habe und daß er seinem eigentlichen Wesen
nach bereits der Welt Gottes angehöre. Dieser Glaube aber ent-
stammt nicht dem richtigen Denken, sondern der inneren Aner-
kennung jenes Gottesreichs und seiner Kräfte, wie sie in Christus
erschienen sind und wie sie sich mit Christus wieder offenbaren
werden in kurzer Frist. Es handelt sich also beim Christen nicht
wie beim Stoiker um eine Einsicht in das wirkliche Wesen der Er-
scheinungen, sondern um eine Aussicht auf ein anderes Reich. Und
diese Aussicht kann nicht durch individuelles Denken erworben
werden; sie kann nur fortgepflanzt werden durch die Predigt der
christlichen Botschaft. Sie entsteht nicht dadurch im Individuum,
daß philosophische Predigt zu naturgemäßer Überlegung führt, son-
dern sie wird als Überzeugung in den christlichen Gemeinden ge-
pflegt und ergreift als εί>ος — der philosophische Kritiker würde
vielleicht sagen: wie eine ansteckende Krankheit — den einen wie
den andern.
Das ist das zutiefst der stoischen Philosophie entgegengesetzte
Wesen der christlichen Glaubensüberzeugung. Diese irrationale
Kraft, die auch irrational fortgepflanzt wird, meint Epiktet mit
seinem υπό εθ-ους. Der Unterschied der Überzeugungen spiegelt
sich auch im praktischen Verhalten. Der Stoiker geht in seiner
Selbsterziehung darauf aus, die Affekte auszutilgen; dann können
sie seine Haltung in kritischen Augenblicken nicht stören; darum
muß er sich schon in unkritischen Augenblicken darauf vorbereiten.
Er darf Kind oder Weib nicht küssen, ohne an ihren Tod zu denken1,
er darf sein Mitleid nicht an einen Klagenden verschwenden, darf
höchstens einmal äußerlich mitseufzen (weil jener doch nur auf
Grund falscher Vorstellungen klagt2). Der Christ dagegen ist ge-
lehrt, mit den Weinenden zu weinen (Röm. 12, 15), weil er ihnen
damit die göttliche Liebe an seinem Teil zur Darstellung bringt.
Der Stoiker muß die Affekte liquidieren, der Christ soll sie ,,in
Christus“ adeln.
Zur Bestätigung darf man auf eine zweite stoische Äußerung
verweisen, die allerdings erst aus dem zweiten Jahrhundert stammt.
Es ist das Urteil des kaiserlichen Philosophen Marc Aurel über
die Christen. In den zwischen Epiktet und ihm liegenden Jahr-
zehnten haben die Christen ihren Ruf, sterben zu können, befestigt.
1 Epiktet, Diss. 111 24, 88 ri κακόν έστι μεταξύ καταφιλοΰντα τό παιδίον
έπιψελλίζοντα λέγειν 'αύριον άποθανη’ vgl. auch Encheiridion 3.
2 Encheir. 16.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften