Metadaten

Panzer, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1949/50, 2. Abhandlung): Vom mittelalterlichen Zitieren — Heidelberg, 1950

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.42217#0015
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Vom mittelalterlichen Zitieren

15

heißt es da: Ditze alte msere bat ein tihtsere an ein buoch schriben, des
enkundez niht beliben, ez ensi ouch noch da von bekant, wie die von
Burgonden lant bi ir ziten und bi ir tagen mit eren heten sich betragen.
Dem schließen sich dann Ausführungen an, die in der Hauptsache
völlig übereinstimmen mit dem, was das uns überlieferte Lied er-
zählt: dieselben Ereignisse werden im großen und ganzen in der-
selben Reihenfolge, in derselben inneren Verknüpfung und weit-
gehend sogar mit denselben oder doch sehr ähnlichen Worten be-
richtet. Es wäre also das Nächstliegende, in dem buoche unser Lied
zu sehen, wenn dem nicht doch gewisse Bedenken entgegenstünden.
Die Klage erzählt manches in den kleineren Zügen etwas anders als
das Lied. Das hätte nun nicht viel zu bedeuten, denn wer mittel-
alterliche Dichtung kennt, weiß, daß genaue Wiedergabe eines Vor-
gegebenen eine Forderung ist, die das Mittelalter nicht kennt.
Schwerer fällt ins Gewicht, daß die Klage etliche Namen, Personen
und Motive bringt, die im Liede nicht enthalten sind. Das stärkste
Bedenken aber mußte erwecken, daß die Klage aus dem von ihr
benutzten Buche einen Satz zitiert, der in unserem Nibelungenliede
sich nicht findet. Nach einer längeren Auslassung, ob Kriemhild
nach dem Geschehenen schuldig oder nichtschuldig sei, heißt es
5 69 ff.:
Des buoches meister sprach daz e:
„dem getriuwen tuot untriuwe we“.
sit si durch triuwe tot gelac,
in gotes huldcn manegen tac
sol si ze himele noch geleben.
Die in der zweiten Zeile angeführten Worte finden sich nicht in
unserem Liedtexte. Man hat daraus den Schluß gezogen, daß also
unmöglich unser Lied die Vorlage der Klage gewesen sein könnte.
Lachmann, der zuerst sich kritisch mit der Klage beschäftigt hat,
zog aus dem festgestellten Umstande den Schluß, der Klagedichter
habe unser Lied überhaupt nicht gekannt. Er habe vielmehr aus
einer Sammlung strophischer Einzellieder geschöpft, die etwa zwi-
schen 1170 und 1180 in Österreich entstanden seien und zwischen
1190 und 1200 zur Klage verarbeitet wurden. Diese Auffassung
brach natürlich mit Lachmanns gesamter Liedertheorie zusammen.
Schon 1854 suchte A. Holtzmann einen anderen Ausweg. Er
meinte, unter dem buoche sei das Gedicht zu verstehen, das auf des
Bischofs Pilgrim von Passau Anregung am Ende des 10. Jahrhun-
derts verfaßt wurde. So deutete er nämlich die Angabe der Klage
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften