Vom mittelalterlichen Zitieren
23
Stunde heißt es nicht Piccolomini 3, 3, sondern Die Uhr schlägt
keinem Glücklichen usw.
Aber bestehen bleibt: das mittelalterliche Zitat kann sich in
einem für uns unmöglichen Ausmaße vom Originale entfernen. Es
waltet da eine Läßlichkeit, die heute vollkommen unzulässig er-
scheint.
Zu bemerken wäre noch, daß solche Leichtfertigkeit sich auch
bei der Angabe der Quellen wirklicher Zitate findet. So spricht
Hartmann von Aue z. B. im Armen Heinrich V. 75ff. von der Hin-
fälligkeit des menschlichen Daseins in deutlicher Anlehnung an das
Buch Hiob, führt auch Ahsalon als warnendes Beispiel an und darf
also mit der Bemerkung schließen, er habe gesprochen, als uns diu
Schrift, d. h. die Bibel, hat geseit. Wenn er aber nun fortfährt: ez
sprichet an einer stat da: media vita in morte sumus, so wird hier
fälschlich der Bibel zugeschrieben, was in Wahrheit Zitat aus einer
bekannten Sequenz des St. Galler Mönches Notker Balbulus ist.
Ähnlich wird für Sentenzen, die in mittelhochdeutscher Epik ein-
gefügt sind, öfter Freidank als Quelle angegeben, ohne daß die
betreffenden Äußerungen sich in unseren Freidankhandschriften
fänden.
Das Auffallende wird begreiflicher, wenn wir anderweite Arten
der mittelalterlichen Behandlung von Schriftdenkmälern heran-
ziehen.
Es zeigt sich eine ähnliche Läßlichkeit wie bei den Zitaten ja
allgemein in der Überlieferung der Literaturdenkmäler, da kein Ab-
schreiber sich ernstlich verpflichtet fühlt, seine Vorlage mit Genauig-
keit wiederzugeben. Es ist nicht nur so gut wie selbstverständlich,
daß er die Sprache in die seiner Zeit und Landschaft umsetzt, er
leistet auch sonst sich Ungenauigkeiten aller Art und schreckt selbst
nicht vor tiefer gehenden Eingriffen zurück. So kommt es, daß wir
von Literaturwerken des Mittelalters öfter mehr oder weniger von-
einander abweichende Bearbeitungen besitzen, z. T. mehrere von
demselben Werke. Im ausgebreitesten Maße ist das bei der Über-
lieferung des sog. Jüngeren Titurel der Fall, der überhaupt in den
zahlreichsten Handschriften auf uns gekommenen altdeutschen
Dichtung. Von ihr hat schon Jakob Püterich in seinem Ehrenbrief
gesagt, er habe wohl 30 Titurele gesehen, der keiner nit was rechte.
Daß solche Bearbeitungen einem großen Literaturwerke unmittel-
bar auf dem Fuße folgen konnten, zeigt die C*-Bearbeitung des
23
Stunde heißt es nicht Piccolomini 3, 3, sondern Die Uhr schlägt
keinem Glücklichen usw.
Aber bestehen bleibt: das mittelalterliche Zitat kann sich in
einem für uns unmöglichen Ausmaße vom Originale entfernen. Es
waltet da eine Läßlichkeit, die heute vollkommen unzulässig er-
scheint.
Zu bemerken wäre noch, daß solche Leichtfertigkeit sich auch
bei der Angabe der Quellen wirklicher Zitate findet. So spricht
Hartmann von Aue z. B. im Armen Heinrich V. 75ff. von der Hin-
fälligkeit des menschlichen Daseins in deutlicher Anlehnung an das
Buch Hiob, führt auch Ahsalon als warnendes Beispiel an und darf
also mit der Bemerkung schließen, er habe gesprochen, als uns diu
Schrift, d. h. die Bibel, hat geseit. Wenn er aber nun fortfährt: ez
sprichet an einer stat da: media vita in morte sumus, so wird hier
fälschlich der Bibel zugeschrieben, was in Wahrheit Zitat aus einer
bekannten Sequenz des St. Galler Mönches Notker Balbulus ist.
Ähnlich wird für Sentenzen, die in mittelhochdeutscher Epik ein-
gefügt sind, öfter Freidank als Quelle angegeben, ohne daß die
betreffenden Äußerungen sich in unseren Freidankhandschriften
fänden.
Das Auffallende wird begreiflicher, wenn wir anderweite Arten
der mittelalterlichen Behandlung von Schriftdenkmälern heran-
ziehen.
Es zeigt sich eine ähnliche Läßlichkeit wie bei den Zitaten ja
allgemein in der Überlieferung der Literaturdenkmäler, da kein Ab-
schreiber sich ernstlich verpflichtet fühlt, seine Vorlage mit Genauig-
keit wiederzugeben. Es ist nicht nur so gut wie selbstverständlich,
daß er die Sprache in die seiner Zeit und Landschaft umsetzt, er
leistet auch sonst sich Ungenauigkeiten aller Art und schreckt selbst
nicht vor tiefer gehenden Eingriffen zurück. So kommt es, daß wir
von Literaturwerken des Mittelalters öfter mehr oder weniger von-
einander abweichende Bearbeitungen besitzen, z. T. mehrere von
demselben Werke. Im ausgebreitesten Maße ist das bei der Über-
lieferung des sog. Jüngeren Titurel der Fall, der überhaupt in den
zahlreichsten Handschriften auf uns gekommenen altdeutschen
Dichtung. Von ihr hat schon Jakob Püterich in seinem Ehrenbrief
gesagt, er habe wohl 30 Titurele gesehen, der keiner nit was rechte.
Daß solche Bearbeitungen einem großen Literaturwerke unmittel-
bar auf dem Fuße folgen konnten, zeigt die C*-Bearbeitung des