Vom mittelalterlichen Zitieren
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wird aufhören, sich darüber zu wundern, wenn man etwa das Re-
gister der Fälschungen auf dem Gebiete mittelalterlicher Geschicht-
schreibung durchmustert, das Wattenbach dem 2. Bande seines
bekannten Werkes über Deutschlands Geschichtsquellen im Mittel-
alter als 2. Beilage angefügt hat.
Nachlässige Willkür zeigt sich vielfach auch in den Titeln, die
unseren von den Verfassern meist titellos gelassenen Literatur wer-
ken in der Überlieferung zugeteilt werden. Sie verraten oft eine
seltsame Flüchtigkeit, besonders im Sinne eines wenig begründeten
Pars pro toto, wenn etwa der Kudrun in der Ambraser Handschrift
als Titel übergeschrieben ist Bitze buoch ist von Chautrun, obwohl
Kudrun nur im letzten Drittel des umfangreichen Epos die Heldin
ist. Dieselbe Handschrift schreibt über das Helmbrechtgedicht
Das puech ist von dem Mayr Helmer echte, obwohl es nicht von dem
Meier Helmhrecht, sondern von dessen Sohne handelt, der eben
kein Meier sein wollte. In beiden Fällen haben sich die schlecht ge-
wählten Titel in unserer Literaturgeschichte eingebürgert. — Wolf-
rams strophisches Epos wie seine jüngere Bearbeitung heißt und
hieß schon im Mittelalter Titurel, nur weil dieser Name in der ersten
Verszeile des ersten Wolframfragmentes auftaucht; nach seinem Hel-
den müßte es Schionatulander heißen. — Im Bibliothekskataloge
des Passauer Bischofs Otto von Lonsdorf, der 1265 gestorben ist,
begegnet ein Handschriftentitel Attila versifice; man ist einig dar-
über4 5, daß damit eine Handschrift des Waltharius gemeint ist, der
mit der Erzählung von Attilas Zug nach Gallien beginnt. — Der
Verfasser des Nibelungenliedes schließt sein Werk mit den Worten:
hie hat daz maere ein ende: daz ist der Nibelunge not. Ich hin, abwei-
chend von E. Schröder0, der Meinung, daß damit der Titel gegeben
sein sollte, obwohl er eigentlich nur für den Schlußteil des Werkes
paßt. Das bleibt für uns auffällig, auch wenn die Betitelung etwa
aus einer älteren, uns verlorenen, wirklich nur den Burgundenunter-
gang behandelnden Dichtung übernommen sein sollte. Daß auch
die Zeitgenossen schon die Fügung als Titel auffaßten, zeigt die
Bearbeitung C* des Liedes. Ihr Verfasser, dessen Aufmerksamkeit
auch die leiseste Inkonzinnität nicht entging, hat eben darum den
Titel abgeändert in die uns heute geläufige Benennung: daz ist der
Nibelunge liet.
4 E. Schröder, Aus den Anfängen des dt. Buchtitels. Nachr. d. Ges. d.
Wissensch. zu Göttingen, Phil.-hist. KL, NF. IV, 2, 1937, 13.
5 E. Schröder, AfdA. 44, 1925, 71.
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wird aufhören, sich darüber zu wundern, wenn man etwa das Re-
gister der Fälschungen auf dem Gebiete mittelalterlicher Geschicht-
schreibung durchmustert, das Wattenbach dem 2. Bande seines
bekannten Werkes über Deutschlands Geschichtsquellen im Mittel-
alter als 2. Beilage angefügt hat.
Nachlässige Willkür zeigt sich vielfach auch in den Titeln, die
unseren von den Verfassern meist titellos gelassenen Literatur wer-
ken in der Überlieferung zugeteilt werden. Sie verraten oft eine
seltsame Flüchtigkeit, besonders im Sinne eines wenig begründeten
Pars pro toto, wenn etwa der Kudrun in der Ambraser Handschrift
als Titel übergeschrieben ist Bitze buoch ist von Chautrun, obwohl
Kudrun nur im letzten Drittel des umfangreichen Epos die Heldin
ist. Dieselbe Handschrift schreibt über das Helmbrechtgedicht
Das puech ist von dem Mayr Helmer echte, obwohl es nicht von dem
Meier Helmhrecht, sondern von dessen Sohne handelt, der eben
kein Meier sein wollte. In beiden Fällen haben sich die schlecht ge-
wählten Titel in unserer Literaturgeschichte eingebürgert. — Wolf-
rams strophisches Epos wie seine jüngere Bearbeitung heißt und
hieß schon im Mittelalter Titurel, nur weil dieser Name in der ersten
Verszeile des ersten Wolframfragmentes auftaucht; nach seinem Hel-
den müßte es Schionatulander heißen. — Im Bibliothekskataloge
des Passauer Bischofs Otto von Lonsdorf, der 1265 gestorben ist,
begegnet ein Handschriftentitel Attila versifice; man ist einig dar-
über4 5, daß damit eine Handschrift des Waltharius gemeint ist, der
mit der Erzählung von Attilas Zug nach Gallien beginnt. — Der
Verfasser des Nibelungenliedes schließt sein Werk mit den Worten:
hie hat daz maere ein ende: daz ist der Nibelunge not. Ich hin, abwei-
chend von E. Schröder0, der Meinung, daß damit der Titel gegeben
sein sollte, obwohl er eigentlich nur für den Schlußteil des Werkes
paßt. Das bleibt für uns auffällig, auch wenn die Betitelung etwa
aus einer älteren, uns verlorenen, wirklich nur den Burgundenunter-
gang behandelnden Dichtung übernommen sein sollte. Daß auch
die Zeitgenossen schon die Fügung als Titel auffaßten, zeigt die
Bearbeitung C* des Liedes. Ihr Verfasser, dessen Aufmerksamkeit
auch die leiseste Inkonzinnität nicht entging, hat eben darum den
Titel abgeändert in die uns heute geläufige Benennung: daz ist der
Nibelunge liet.
4 E. Schröder, Aus den Anfängen des dt. Buchtitels. Nachr. d. Ges. d.
Wissensch. zu Göttingen, Phil.-hist. KL, NF. IV, 2, 1937, 13.
5 E. Schröder, AfdA. 44, 1925, 71.