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Schadewaldt, Wolfgang; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1959, 2. Abhandlung): Neue Kriterien zur Odyssee-Analyse: die Wiedererkennung des Odysseus und der Penelope — Heidelberg, 1959

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https://doi.org/10.11588/diglit.42460#0011
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Neue Kriterien zur Odyssee-Analyse

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tradictio in adiectu —, eine jedenfalls in ihrem Endeffekt ,positive
Analyse‘ zu entwickeln. Sie bot sich mir durch folgende Überlegung
dar.
Wenn eine Dichtung durch Einlagen erweitert ist, so muß ihre
Struktur gesprengt sein. Und läßt man nun die aufgrund der kon-
ventionellen negativen Kriterien der Einlage verdächtigen Partien
fort, so muß sich die ursprüngliche Struktur des originalen Zusam-
menhangs wieder zusammenfügen und wohl gar erst überhaupt
richtig zum Vorschein kommen. Unter ,Struktur1 verstehe ich hierbei
nicht lediglich den äußerlichen plausiblen Tatsachenzusammenhang
— diesen wird man immer irgendwie aus einer Dichtung heraus-
präparieren können — und ebensowenig nur die äußere Komposi-
tion. Struktur ist das innere lebendige Gerüst der Dichtung, das jen-
seits der sinnlichen Erscheinungsfülle steht und diese trägt. Wir
können es am deutlichsten in der Musik erkennen, wo sich dem
musikalischen Menschen, jenseits der äußeren sinnlichen Klangfülle,
die Struktur einer Fuge, einer Sonate auftut, so wie diese auch der
gute musikalische Interpret herausarbeitet. In der Baukunst sind die
architektonischen Strukturen so deutlich erkennbar, daß wir ohne
weiteres an einer Kathedrale die barocken Elemente von den goti-
schen oder romanischen Teilen absondern können. In der Plastik ist
es unseren Archäologen in einigen Fällen gelungen, die Kopie einer
griechischen Statue etwa im Vatikan, unter Weglassung ihres römi-
schen Kopfes, mit einem Kopf in Stockholm oder im Louvre zu ver-
binden und so das originale griechische Bildwerk überzeugend
zurückzugewinnen3. Das Überzeugende lag dann in dem Positiven,
der wiederhergestellten Ganzheit der Statue. — Was die Archäo-
logen können, sollte auch dem Philologen nicht unmöglich sein. Auch
das dichterische Wort hat seine — innere — Plastik, und wenn diese
Plastik, der Odyssee z. B., an irgendeiner Stelle durch ein falsches
eingesetztes Glied gestört ist, so sollte es auch dem Philologen ge-
lingen, nach Weglassung des präsumptiven falschen Gliedes das
originale Ganze herzustellen. Auch in diesem Fall würde das so
entstandene Ganze positiv für die Richtigkeit unserer analytischen
Operation sprechen.
Wie man sieht, verbindet sich das geschilderte Verfahren auch
3 Ich denke an den sogenannten ,Amelungschen Athleten“. Walter Amelung,
J. d. Inst. 42, 1927, 152 ff. (M. Bieber), oder die auch von Amelung wieder
hergestellte sogen. ,Aspasia“, R. M. 15, 1900, 181 ff. Weiteres bei H. Payne,
Archaic Marble Sculpture from the Acropolis, 1936, 6. 15.
 
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