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Karl Engisch:
Sollensurteil ist dann wieder zu unterscheiden vom Sollensurteil,
das ein negatives Verhalten fordert, auf ein Unterlassensollen ge-
richtet ist: ,,X soll den geplanten Bau nicht errichten“, ,,X durfte in
dieser Situation nicht töten“ (es fehlte ihm jedes Recht dazu).
Hier ist aber sofort eine Klarstellung geboten. Wenn wir hier
vom Sollensurteil des Richters oder auch des Verwaltungsbeamten
in einem Atem mit dem irgendwelcher Privatpersonen sprechen, so
schwebt uns bei jenem nicht der konkrete Imperativ vor, den der
staatliche Beamte kraft seiner Autorität in und mit dem „Urteil“
oder einem Polizeibefehl oder einem Steuerbescheid usw. erläßt.
Solche autoritativen Äußerungen enthalten nämlich ein plus: eine
Willenserklärung, ein befehlendes : ,,Du sollst!“1. Wir aber haben
es hier mit etwas zu tun, was freilich auch der Verwaltungsbeamte
und der Richter als Durchgangspunkt braucht: der Feststellung des
Sollens als reines Denkgebilde genommen. Dieses konkrete Sollens-
urteil ist logisch genommen ein echtes Urteil, es weist das Kenn-
zeichen auf, das seit Aristoteles (de interpr. cap. IV p. 17a) als das
des Urteilens gilt: es eignet ihm Wahrheit oder Falschheit, es erhebt
den Anspruch auf Wahrheit oder „Richtigkeit“. Damit unter-
scheidet es sich vom Befehl, vom imperativischen Sollenssatz, der
nur den Anspruch auf Gerechtigkeit oder Zweckmäßigkeit erheben
kann. Ein Befehlssatz bedarf auch immer der Entäußerung, wäh-
rend dem Sollensurteil in unserem Sinne die mündliche oder schrift-
liche Entäußerung unwesentlich, eben wirklich „äußerlich“ ist.
Daß wir den richterlichen Spruch dann auch im Ganzen ein „Urteil“
nennen, ist allerdings geeignet, Verwirrung zu stiften: das richter-
liche „Urteil“ enthält auch ein Urteil im logischen Sinne, eine
Feststellung, die Anspruch auf Richtigkeit erhebt. Aber es enthält
daneben ein Element, das nicht mehr Urteil im logischen Sinne ist,
eben den Befehl. Wir wollen uns hier jedenfalls mit dem konkreten
juristischen Sollensurteil als Denkgebilde befassen. Es ist auch
insofern viel weitreichender als das Urteil eines Richters oder über-
haupt der Befehl eines Staatsbeamten, als es nicht nur als Teil-
moment in staatlich-autoritären Äußerungen erscheint, sondern,
wie wir bereits gezeigt haben, auch als Denkgebilde im Geiste ir-
gendwelcher Laien. Solche Urteile vollzieht dann aber auch der
wissenschaftliche Jurist, indem er konkrete Lebensfälle entscheidet,
gutachtlich zu ihnen Stellung nimmt.
1 Siehe auch Binder, Philosophie des Rechts, 1925, S. 741 ff.; Pf.tra-
schek, Rechtsphilosophie, 1932, S. 328f.
Karl Engisch:
Sollensurteil ist dann wieder zu unterscheiden vom Sollensurteil,
das ein negatives Verhalten fordert, auf ein Unterlassensollen ge-
richtet ist: ,,X soll den geplanten Bau nicht errichten“, ,,X durfte in
dieser Situation nicht töten“ (es fehlte ihm jedes Recht dazu).
Hier ist aber sofort eine Klarstellung geboten. Wenn wir hier
vom Sollensurteil des Richters oder auch des Verwaltungsbeamten
in einem Atem mit dem irgendwelcher Privatpersonen sprechen, so
schwebt uns bei jenem nicht der konkrete Imperativ vor, den der
staatliche Beamte kraft seiner Autorität in und mit dem „Urteil“
oder einem Polizeibefehl oder einem Steuerbescheid usw. erläßt.
Solche autoritativen Äußerungen enthalten nämlich ein plus: eine
Willenserklärung, ein befehlendes : ,,Du sollst!“1. Wir aber haben
es hier mit etwas zu tun, was freilich auch der Verwaltungsbeamte
und der Richter als Durchgangspunkt braucht: der Feststellung des
Sollens als reines Denkgebilde genommen. Dieses konkrete Sollens-
urteil ist logisch genommen ein echtes Urteil, es weist das Kenn-
zeichen auf, das seit Aristoteles (de interpr. cap. IV p. 17a) als das
des Urteilens gilt: es eignet ihm Wahrheit oder Falschheit, es erhebt
den Anspruch auf Wahrheit oder „Richtigkeit“. Damit unter-
scheidet es sich vom Befehl, vom imperativischen Sollenssatz, der
nur den Anspruch auf Gerechtigkeit oder Zweckmäßigkeit erheben
kann. Ein Befehlssatz bedarf auch immer der Entäußerung, wäh-
rend dem Sollensurteil in unserem Sinne die mündliche oder schrift-
liche Entäußerung unwesentlich, eben wirklich „äußerlich“ ist.
Daß wir den richterlichen Spruch dann auch im Ganzen ein „Urteil“
nennen, ist allerdings geeignet, Verwirrung zu stiften: das richter-
liche „Urteil“ enthält auch ein Urteil im logischen Sinne, eine
Feststellung, die Anspruch auf Richtigkeit erhebt. Aber es enthält
daneben ein Element, das nicht mehr Urteil im logischen Sinne ist,
eben den Befehl. Wir wollen uns hier jedenfalls mit dem konkreten
juristischen Sollensurteil als Denkgebilde befassen. Es ist auch
insofern viel weitreichender als das Urteil eines Richters oder über-
haupt der Befehl eines Staatsbeamten, als es nicht nur als Teil-
moment in staatlich-autoritären Äußerungen erscheint, sondern,
wie wir bereits gezeigt haben, auch als Denkgebilde im Geiste ir-
gendwelcher Laien. Solche Urteile vollzieht dann aber auch der
wissenschaftliche Jurist, indem er konkrete Lebensfälle entscheidet,
gutachtlich zu ihnen Stellung nimmt.
1 Siehe auch Binder, Philosophie des Rechts, 1925, S. 741 ff.; Pf.tra-
schek, Rechtsphilosophie, 1932, S. 328f.