Logische Studien zur Gesetzesanwendung
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daß sie mitunter als wirklich angesprochen werden, z. B. für die Re-
lation der ,,Vorgeneration“ einer Klasse von Tieren oder Menschen
zu einer anderen (der Nachkommenschaft); man braucht hier nur
an statistische Feststellungen betreffend die Kriminalität innerhalb
der Vorgeneration einer Gruppe von Gewohnheitsverbrechern zu
denken. Die Dinge komplizieren sich noch mehr, wenn wir vom Le-
benssprachgebrauch, der hier im Großen und Ganzen auch der des
Juristen sein mag, übergehen zu dem doch auch wieder eigenwilli-
gen oder möglicherweise besonderen Sprachgebrauch unserer Ge-
setze. Es ist nämlich keineswegs ausgeschlossen, daß von Gesetz zu
Gesetz oder sogar innerhalb desselben Gesetzes von Norm zu Norm
der Begriff der Tatsache Veränderungen unterworfen ist. Eine sol-
che „Relativität des Tatsachenbegriffes“ haben denn auch z. B.
Rumpf und Mannheim verfochten1. Doch dürfte es sich hier um
Schwankungen an der Peripherie des Tatsachenbegriffes handeln,
der Begriffskern dagegen beharren.
Jedenfalls dürfen wir jetzt weitere Einzelschwierigkeiten auf
sich beruhen lassen. Wir haben genügend Material aus dem Bereich
des Wirklichkeitsartigen bereitgestellt, um uns nunmehr den Prob-
lemen zuwenden zu können, was die Wirklichkeit (Tatsächlichkeit,
Realität) bedeutet und welche Kriterien und Wege ihrer Erkenntnis
es gibt. Sehen wir uns hier in der philosophischen und juristischen
Literatur um, so stoßen wir wieder auf die größten Meinungsver-
schiedenheiten2.
1 Rumpf, a.a.O., S. 196/97; Mannheim, a.a.O., S. 41 ff. Wenn man
z. B. allgemeine Regeln des wirklichen Geschehens sonst für eine „Tatsache“
halten mag, so ist doch möglich, daß im Sinne des § 186 StGB, nur konkrete
Einzelvorgänge „Tatsache“ sind (nach RGSt. 55, S. 131 allerdings auch „eine
Reihe fortlaufender, gleichartiger Geschehnisse in ihrer Gesamtheit“). Der
sonst nicht gerechtfertigte und überwundene Gegensatz von Tatsache und
Urteil beherrschte positivrechtlich die Auslegung des früheren § 445 ZPO., wo-
zu: Kisch, a.a.O., S. 173ff. und Rumpf, a.a.O., S. 198.
2 An neuerer Literatur wurde von mir benutzt (geordnet in zeitlicher
Reihenfolge): Dilthey, Beiträge zur Lösung der Frage vom Ursprung unseres
Glaubens an die Realität der Außenwelt, 1890, Ges. Schriften V, S. 90ff.;
von Aster, Prinzipien der Erkenntnislehre, 1913, S. 17Off.; v. Kries, Logik,
1916, S. 35ff.; Linke, Wahrnehmungslehre, 1918, S. 120ff.; Rickert, System
der Philosophie, 1921, S. 101 ff., 178ff.; Becher, Geisteswissenschaften und
Naturwissenschaften, 1921, S. 20ff.; Bauch, Wahrheit, Wert und Wirklich-
keit, 1923, S. 9ff., 93ff., 205ff. u. ö.; Heyde, Grundwissenschaftliche Philo-
sophie, 1924, S. 77ff.; Schlick, Allgemeine Erkenntnislehre, 1925, S. 157ff.;
Jacoby, Ontologie der Wirklichkeit, 1925, S. 18ff.; Maier, Wahrheit und
Wirklichkeit, 1926, S. 326ff.; Carnap, Der logische Aufbau der Welt, 1928,
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daß sie mitunter als wirklich angesprochen werden, z. B. für die Re-
lation der ,,Vorgeneration“ einer Klasse von Tieren oder Menschen
zu einer anderen (der Nachkommenschaft); man braucht hier nur
an statistische Feststellungen betreffend die Kriminalität innerhalb
der Vorgeneration einer Gruppe von Gewohnheitsverbrechern zu
denken. Die Dinge komplizieren sich noch mehr, wenn wir vom Le-
benssprachgebrauch, der hier im Großen und Ganzen auch der des
Juristen sein mag, übergehen zu dem doch auch wieder eigenwilli-
gen oder möglicherweise besonderen Sprachgebrauch unserer Ge-
setze. Es ist nämlich keineswegs ausgeschlossen, daß von Gesetz zu
Gesetz oder sogar innerhalb desselben Gesetzes von Norm zu Norm
der Begriff der Tatsache Veränderungen unterworfen ist. Eine sol-
che „Relativität des Tatsachenbegriffes“ haben denn auch z. B.
Rumpf und Mannheim verfochten1. Doch dürfte es sich hier um
Schwankungen an der Peripherie des Tatsachenbegriffes handeln,
der Begriffskern dagegen beharren.
Jedenfalls dürfen wir jetzt weitere Einzelschwierigkeiten auf
sich beruhen lassen. Wir haben genügend Material aus dem Bereich
des Wirklichkeitsartigen bereitgestellt, um uns nunmehr den Prob-
lemen zuwenden zu können, was die Wirklichkeit (Tatsächlichkeit,
Realität) bedeutet und welche Kriterien und Wege ihrer Erkenntnis
es gibt. Sehen wir uns hier in der philosophischen und juristischen
Literatur um, so stoßen wir wieder auf die größten Meinungsver-
schiedenheiten2.
1 Rumpf, a.a.O., S. 196/97; Mannheim, a.a.O., S. 41 ff. Wenn man
z. B. allgemeine Regeln des wirklichen Geschehens sonst für eine „Tatsache“
halten mag, so ist doch möglich, daß im Sinne des § 186 StGB, nur konkrete
Einzelvorgänge „Tatsache“ sind (nach RGSt. 55, S. 131 allerdings auch „eine
Reihe fortlaufender, gleichartiger Geschehnisse in ihrer Gesamtheit“). Der
sonst nicht gerechtfertigte und überwundene Gegensatz von Tatsache und
Urteil beherrschte positivrechtlich die Auslegung des früheren § 445 ZPO., wo-
zu: Kisch, a.a.O., S. 173ff. und Rumpf, a.a.O., S. 198.
2 An neuerer Literatur wurde von mir benutzt (geordnet in zeitlicher
Reihenfolge): Dilthey, Beiträge zur Lösung der Frage vom Ursprung unseres
Glaubens an die Realität der Außenwelt, 1890, Ges. Schriften V, S. 90ff.;
von Aster, Prinzipien der Erkenntnislehre, 1913, S. 17Off.; v. Kries, Logik,
1916, S. 35ff.; Linke, Wahrnehmungslehre, 1918, S. 120ff.; Rickert, System
der Philosophie, 1921, S. 101 ff., 178ff.; Becher, Geisteswissenschaften und
Naturwissenschaften, 1921, S. 20ff.; Bauch, Wahrheit, Wert und Wirklich-
keit, 1923, S. 9ff., 93ff., 205ff. u. ö.; Heyde, Grundwissenschaftliche Philo-
sophie, 1924, S. 77ff.; Schlick, Allgemeine Erkenntnislehre, 1925, S. 157ff.;
Jacoby, Ontologie der Wirklichkeit, 1925, S. 18ff.; Maier, Wahrheit und
Wirklichkeit, 1926, S. 326ff.; Carnap, Der logische Aufbau der Welt, 1928,
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