20
Viktor Pöschl
durch das Lächeln des Gottes über den Sterblichen gemildert, der sich über
das ihm „Zubestimmte“ hinaus {fas hier fast gleich fatum wie öfter bei
Virgil) ängstigt. Das Lächeln des Gottes über die Torheit der Menschen
ist der Heiterkeit des epikureischen Weisen verwandt, der von den sapien-
tum templa auf die umherirrenden Menschen herunterschaut, wie es Lucrez
im Prooemium zum zweiten Buch ausgesprochen hat.
An diese Offenbarung knüpft der Dichter den höchsten und letzten An-
ruf an den Freund, der durch den feierlichen Ton des memento hervor-
gehoben ist:
quod adest memento/componere aequos.
Das, was da ist, das Gegenwärtige gedenke in Gleichmut zu ordnen. Über
der Zukunft darfst du die Gegenwart nicht versäumen. Den gegenwärtigen
Augenblick mit allem, was er bietet, mußt du ergreifen und ausschöpfen
und so das Leben wirklich erfüllen. So spricht bei Lucrez die personifizierte
Rerum natura zu dem Alten, der nicht sterben will (3, 957):
sed quia semper aves quod abest (der genaue Gegensatz zu dem hora-
zischen quod adest), praesentia temnis,/imperfecta tibi elapsast ingrataque
vita.
Jeder Tag, jede Stunde entscheidet, ob das Leben eine vita perfecta
oder imperfecta ist. Am großartigsten hat den Gedanken Seneca ausge-
sprochen: magni artificis est clusisse totum in exiguo (ep. 53, 11). Bei ihm
steht die epikureische Lehre vom Wert des gegenwärtigen Augenblicks
und der Bedeutung der Zeit als der wichtigsten Realität des menschlichen
Daseins in der Mitte seiner Lebensphilosophie. Die Schrift De brevitate
vitae ist ihr gewidmet, und in dem Brief, der die Epistulae morales ein-
leitet, wird sie als entscheidend für die dort entwickelte Seelentherapie
nachdrücklich herausgestellt. Es verdient Beachtung, daß die Ethik der
Epikureer dem römischen Hang zum Konkreten, Individuellen, Unideolo-
gischen und dem Sinn der Römer für Ökonomie (insbesondere die nicht nur
für Seneca wichtige Ökonomie des Lebens und der Zeit) entgegenkam und
höchst geeignet war, die theoretische Grundlage für die römische Einstel-
lung zu liefern. Es enthüllt sich hier eine Beziehung zwischen Römertum
und Epikureismus, die ein in konventionellen Vorstellungen befangener
Betrachter27 nicht vermuten würde.
Die Mahnung quod adest memento componere aequos ist im übrigen
nicht ohne Beziehung auf das Dichten des Horaz. Sie könnte geradezu als
Motto über der horazischen Lyrik stehen. Denn was wollen die meisten
seiner Oden anderes, als das, was gegenwärtig ist, zu einer Ordnung fügen,
einen Augenblick des Lebens erfüllen, erhöhen, in ein größeres Ganzes
einordnen, ihn in poetischer Verwandlung dem Schatze der Erinnerungen
27 Charakteristisch z. B. R. Reitzenstein, Neue Wege zur Antike 2, 1925, 13: der
Epikureismus ist unrömisch durch und durch.
Viktor Pöschl
durch das Lächeln des Gottes über den Sterblichen gemildert, der sich über
das ihm „Zubestimmte“ hinaus {fas hier fast gleich fatum wie öfter bei
Virgil) ängstigt. Das Lächeln des Gottes über die Torheit der Menschen
ist der Heiterkeit des epikureischen Weisen verwandt, der von den sapien-
tum templa auf die umherirrenden Menschen herunterschaut, wie es Lucrez
im Prooemium zum zweiten Buch ausgesprochen hat.
An diese Offenbarung knüpft der Dichter den höchsten und letzten An-
ruf an den Freund, der durch den feierlichen Ton des memento hervor-
gehoben ist:
quod adest memento/componere aequos.
Das, was da ist, das Gegenwärtige gedenke in Gleichmut zu ordnen. Über
der Zukunft darfst du die Gegenwart nicht versäumen. Den gegenwärtigen
Augenblick mit allem, was er bietet, mußt du ergreifen und ausschöpfen
und so das Leben wirklich erfüllen. So spricht bei Lucrez die personifizierte
Rerum natura zu dem Alten, der nicht sterben will (3, 957):
sed quia semper aves quod abest (der genaue Gegensatz zu dem hora-
zischen quod adest), praesentia temnis,/imperfecta tibi elapsast ingrataque
vita.
Jeder Tag, jede Stunde entscheidet, ob das Leben eine vita perfecta
oder imperfecta ist. Am großartigsten hat den Gedanken Seneca ausge-
sprochen: magni artificis est clusisse totum in exiguo (ep. 53, 11). Bei ihm
steht die epikureische Lehre vom Wert des gegenwärtigen Augenblicks
und der Bedeutung der Zeit als der wichtigsten Realität des menschlichen
Daseins in der Mitte seiner Lebensphilosophie. Die Schrift De brevitate
vitae ist ihr gewidmet, und in dem Brief, der die Epistulae morales ein-
leitet, wird sie als entscheidend für die dort entwickelte Seelentherapie
nachdrücklich herausgestellt. Es verdient Beachtung, daß die Ethik der
Epikureer dem römischen Hang zum Konkreten, Individuellen, Unideolo-
gischen und dem Sinn der Römer für Ökonomie (insbesondere die nicht nur
für Seneca wichtige Ökonomie des Lebens und der Zeit) entgegenkam und
höchst geeignet war, die theoretische Grundlage für die römische Einstel-
lung zu liefern. Es enthüllt sich hier eine Beziehung zwischen Römertum
und Epikureismus, die ein in konventionellen Vorstellungen befangener
Betrachter27 nicht vermuten würde.
Die Mahnung quod adest memento componere aequos ist im übrigen
nicht ohne Beziehung auf das Dichten des Horaz. Sie könnte geradezu als
Motto über der horazischen Lyrik stehen. Denn was wollen die meisten
seiner Oden anderes, als das, was gegenwärtig ist, zu einer Ordnung fügen,
einen Augenblick des Lebens erfüllen, erhöhen, in ein größeres Ganzes
einordnen, ihn in poetischer Verwandlung dem Schatze der Erinnerungen
27 Charakteristisch z. B. R. Reitzenstein, Neue Wege zur Antike 2, 1925, 13: der
Epikureismus ist unrömisch durch und durch.