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Heinrich Bornkamm
der hier ebenfalls seine Funktion hat, ist völlig natürlich in den
Sinn des zu Sagenden hineingezogen und alles Ornamentalen ent-
kleidet. Ein kleines Meisterbeispiel für die Möglichkeiten einer Aus-
druckskunst, die Luther dadurch gewonnen hatte, daß er auf alle zur
Verfügung stehenden Kunstformen verzichtete und einzig und allein
von der konkreten seelsorgerlichen Aufgabe am Sterbenden aus-
ging47.
Diese Loslösung bedeutete in jedem Falle Befreiung vom Zwang
zu einer Schematisierung. In den berühmten „drei Mauern der Ro-
manisten“ in der Schrift An den christlichen Adel hatte Luther eine
Bildidee zur Hand48, die sich ihm bei einer stilisierenden Schrift-
stellerei für die formale Gliederung der Schrift hätte aufdrängen
müssen. So aber ergibt sie nicht mehr als ein mit kräftigen Strichen
gezeichnetes Eingangsbild der römischen Kirche, die, scheinbar wohl-
verschanzt, die Gemüter eingeschüchtert hat und doch leicht zu stür-
47 Appel, S. 121ff., Friedr. Gerke, Anfechtung und Sakrament in Luthers Ser-
mon vom Sterben. Theol. Blätter 1934, 193ff. L. Kleins Versuch (s. Anm.42), den
anonymen Libellus auro praestantior de animae praeparatione in extremis
laborantis deque praedestinatione et tentatione fidei (Hagenau 1518) als Vor-
lage für Luthers Schrift zu erweisen, hat mich nicht überzeugt. Da nach ihrer
eigenen Auffassung Luther mit dem übernommenen Material völlig frei ge-
schaltet hat, ist die Abhängigkeitsfrage auch nicht wichtig. Trotzdem ist ihr
Hinweis auf die auch in WA 10, II, 442-451 aus der Hamburger Ausgabe von
Luthers Betbüchlein (1523) in niederdeutscher Übersetzung abgedruckte Schrift
sehr dankenswert. Der Vergleich zeigt, daß Luthers Sermon ihr weder formal
(im Aufbau an Hand des Spruches Sir. 11, 26, den Luther auch vorher schon be-
nutzt, vgl. 57 III; 77, 8) noch in den entscheidenden theologischen Aussagen
entspricht. Der schöne, konzentrierte Libellus, selbst ein Beispiel für die nicht
eingekleidete Darstellungsform, die es natürlich im Spätmittelalter auch gibt,
und Luthers Sermon stehen sich in der Bemühung um das seelsorgerliche Pro-
blem und in den Sprachmitteln sehr nahe und doch zugleich als klassische Zeug-
nisse einer von Seuse und Staupitz bestimmten Frömmigkeit und der neuen
reformatorischen Antwort deutlich gegenüber. Im Vergleich zu Staupitzens
„Büchlein von der Nachfolge des willigen Sterbens Christi“ (1515) ist Luther,
wie Günther Müller (vgl. Anm. 26) treffend gezeigt hat, fast „katholischer“,
d. h. kirchlicher, mit der nachdrücklichen Verweisung des Sterbenden auf die
Gnadenmittel der Kirche, während die Staupitzsche Devotion Berührungen mit
der bald hervortretenden täuferischen Position zeigt. „Was die spontane schrift-
stellerische Kraft anlangt, erscheint Staupitzens Sterbebüchlein blaß neben dem
Lutherschen“ (S. 124).
48 Sie findet sich schon in einem Briefe Capitos an Luther vom 4. Sept. 1518 (WA
Br. 1; 198, 11), wird von diesem aber anders, wesentlich scharfsinniger ver-
wandt. Die Quelle der Vorstellung ist wohl die dreifach ummauerte Burg des
Tartarus (Vergil, Aen. 6, 549). Köstlin-Kawerau, M. Luther (51903) 1, 321.
Heinrich Bornkamm
der hier ebenfalls seine Funktion hat, ist völlig natürlich in den
Sinn des zu Sagenden hineingezogen und alles Ornamentalen ent-
kleidet. Ein kleines Meisterbeispiel für die Möglichkeiten einer Aus-
druckskunst, die Luther dadurch gewonnen hatte, daß er auf alle zur
Verfügung stehenden Kunstformen verzichtete und einzig und allein
von der konkreten seelsorgerlichen Aufgabe am Sterbenden aus-
ging47.
Diese Loslösung bedeutete in jedem Falle Befreiung vom Zwang
zu einer Schematisierung. In den berühmten „drei Mauern der Ro-
manisten“ in der Schrift An den christlichen Adel hatte Luther eine
Bildidee zur Hand48, die sich ihm bei einer stilisierenden Schrift-
stellerei für die formale Gliederung der Schrift hätte aufdrängen
müssen. So aber ergibt sie nicht mehr als ein mit kräftigen Strichen
gezeichnetes Eingangsbild der römischen Kirche, die, scheinbar wohl-
verschanzt, die Gemüter eingeschüchtert hat und doch leicht zu stür-
47 Appel, S. 121ff., Friedr. Gerke, Anfechtung und Sakrament in Luthers Ser-
mon vom Sterben. Theol. Blätter 1934, 193ff. L. Kleins Versuch (s. Anm.42), den
anonymen Libellus auro praestantior de animae praeparatione in extremis
laborantis deque praedestinatione et tentatione fidei (Hagenau 1518) als Vor-
lage für Luthers Schrift zu erweisen, hat mich nicht überzeugt. Da nach ihrer
eigenen Auffassung Luther mit dem übernommenen Material völlig frei ge-
schaltet hat, ist die Abhängigkeitsfrage auch nicht wichtig. Trotzdem ist ihr
Hinweis auf die auch in WA 10, II, 442-451 aus der Hamburger Ausgabe von
Luthers Betbüchlein (1523) in niederdeutscher Übersetzung abgedruckte Schrift
sehr dankenswert. Der Vergleich zeigt, daß Luthers Sermon ihr weder formal
(im Aufbau an Hand des Spruches Sir. 11, 26, den Luther auch vorher schon be-
nutzt, vgl. 57 III; 77, 8) noch in den entscheidenden theologischen Aussagen
entspricht. Der schöne, konzentrierte Libellus, selbst ein Beispiel für die nicht
eingekleidete Darstellungsform, die es natürlich im Spätmittelalter auch gibt,
und Luthers Sermon stehen sich in der Bemühung um das seelsorgerliche Pro-
blem und in den Sprachmitteln sehr nahe und doch zugleich als klassische Zeug-
nisse einer von Seuse und Staupitz bestimmten Frömmigkeit und der neuen
reformatorischen Antwort deutlich gegenüber. Im Vergleich zu Staupitzens
„Büchlein von der Nachfolge des willigen Sterbens Christi“ (1515) ist Luther,
wie Günther Müller (vgl. Anm. 26) treffend gezeigt hat, fast „katholischer“,
d. h. kirchlicher, mit der nachdrücklichen Verweisung des Sterbenden auf die
Gnadenmittel der Kirche, während die Staupitzsche Devotion Berührungen mit
der bald hervortretenden täuferischen Position zeigt. „Was die spontane schrift-
stellerische Kraft anlangt, erscheint Staupitzens Sterbebüchlein blaß neben dem
Lutherschen“ (S. 124).
48 Sie findet sich schon in einem Briefe Capitos an Luther vom 4. Sept. 1518 (WA
Br. 1; 198, 11), wird von diesem aber anders, wesentlich scharfsinniger ver-
wandt. Die Quelle der Vorstellung ist wohl die dreifach ummauerte Burg des
Tartarus (Vergil, Aen. 6, 549). Köstlin-Kawerau, M. Luther (51903) 1, 321.