Luther als Schriftsteller
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monologisch redet, sondern den Partner braucht. Das ist nicht nur
charakteristisch für seinen Stil - so sehr es zutrifft, „daß er auch als
Schreibender jederzeit ein Sprechender war56“ -, sondern ebenso in
der Anlage und Form seiner Schriften begründet. Stil und äußere
Gestalt sind untrennbar verschwisterte Ausdrucksweisen seines lite-
rarischen Charakters. Er schreibt keine mystischen Meditationen,
philosophischen oder theologischen Abhandlungen, die aus sich selbst
erwachsen und fortschreiten, sondern er entfaltet sich erst am Gegen-
über. Von den Predigten abgesehen, die auf die Gemeinde blicken
und neben der literarischen Produktion ein Genus für sich bilden,
haben Luthers Schriften drei Hauptpartner: die Bibel, Menschen,
welche Antwort oder Seelsorge brauchen, und Gegner.
Die Bibel umfaßt die andern mit. Sie ist für ihn zwar auch in der
rein persönlichen Konfrontation mit ihr dauernd gegenwärtig, aber
ohne sie könnte er das Gespräch mit den andern überhaupt nicht
führen. „Luther dachte fast immer als Bibelausleger. Sucht man ihn
selber auf, trifft man ihn bei der Bibelerklärung. Sie ist gleichsam
sein Idiom, seine Mundart; sie muß man verstehen, um ihn selber zu
vernehmen57.“ Luther hat Unerhörtes aus der Bibel herausgeholt
und die Bibel Unerhörtes aus ihm. Er hatte nie das Gefühl, an ihr
in sein Eigenes zu wachsen. Sondern sie wächst, je mehr man mit
56 A. E. Berger, Deutsche Kunstprosa der Lutherzeit (Deutsche Lit. Reformation
VII, 1942), 24. Damit hängt zusammen, daß Luther es in seinen Predigten
liebt, die biblischen Personen in direkter Rede auftreten zu lassen. Hübsche
Beispiele bei Roland H. Bainton, Luther’s use of direct discourse, in: Luther
Today (Decorah, Iova, 1957), 13-25; „Luther in his method is unique. One
finds nothing of the sort in Calvin or Zwingli, in Cranmer or Knox“ (S. 13).
57 Rudolf Hermann, Die Gestalt Simsons bei Luther (1952). In: Ges. Studien zur
Theologie Luthers und der Reformation (1960), 428. - Mit dem Blick allein
auf Luthers Stil, nicht seine Denkweise oder die Gestalt seines Schrifttums
überhaupt, sagt Walter Ettinghausen ähnlich: If we bear in mind that Luther
was essentially a preacher and Interpreter of the Word, that his thoughts turned
naturally to exegesis and explanation, and that he feit and believed that a
higher Force was speaking through him, then a great deal becomes clear or at
any rate clearer. Nach Ettinghausen trifft sich in Luther a naturally associative
mind mit dem fundamentalen Charakteristikum of the exegetic mind, so daß
die rasche, leichte Assoziation zum wichtigsten Merkmal seines Prosastils wird
(s. o. in Anm. 27, S. 185f.). - Luthers Bibelnähe bedeutet nicht, daß er sie sich
zum literarischen Vorbild macht. Er spricht ihre vielstimmige Sprache, aber er
ahmt ihre Form nur selten nach, am ehesten in offenen Briefen, z. B. an die
Christen in Straßburg (15, 391ff.), in den Niederlanden (12, 77ff.) und Livland
(18, 417ff.).
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monologisch redet, sondern den Partner braucht. Das ist nicht nur
charakteristisch für seinen Stil - so sehr es zutrifft, „daß er auch als
Schreibender jederzeit ein Sprechender war56“ -, sondern ebenso in
der Anlage und Form seiner Schriften begründet. Stil und äußere
Gestalt sind untrennbar verschwisterte Ausdrucksweisen seines lite-
rarischen Charakters. Er schreibt keine mystischen Meditationen,
philosophischen oder theologischen Abhandlungen, die aus sich selbst
erwachsen und fortschreiten, sondern er entfaltet sich erst am Gegen-
über. Von den Predigten abgesehen, die auf die Gemeinde blicken
und neben der literarischen Produktion ein Genus für sich bilden,
haben Luthers Schriften drei Hauptpartner: die Bibel, Menschen,
welche Antwort oder Seelsorge brauchen, und Gegner.
Die Bibel umfaßt die andern mit. Sie ist für ihn zwar auch in der
rein persönlichen Konfrontation mit ihr dauernd gegenwärtig, aber
ohne sie könnte er das Gespräch mit den andern überhaupt nicht
führen. „Luther dachte fast immer als Bibelausleger. Sucht man ihn
selber auf, trifft man ihn bei der Bibelerklärung. Sie ist gleichsam
sein Idiom, seine Mundart; sie muß man verstehen, um ihn selber zu
vernehmen57.“ Luther hat Unerhörtes aus der Bibel herausgeholt
und die Bibel Unerhörtes aus ihm. Er hatte nie das Gefühl, an ihr
in sein Eigenes zu wachsen. Sondern sie wächst, je mehr man mit
56 A. E. Berger, Deutsche Kunstprosa der Lutherzeit (Deutsche Lit. Reformation
VII, 1942), 24. Damit hängt zusammen, daß Luther es in seinen Predigten
liebt, die biblischen Personen in direkter Rede auftreten zu lassen. Hübsche
Beispiele bei Roland H. Bainton, Luther’s use of direct discourse, in: Luther
Today (Decorah, Iova, 1957), 13-25; „Luther in his method is unique. One
finds nothing of the sort in Calvin or Zwingli, in Cranmer or Knox“ (S. 13).
57 Rudolf Hermann, Die Gestalt Simsons bei Luther (1952). In: Ges. Studien zur
Theologie Luthers und der Reformation (1960), 428. - Mit dem Blick allein
auf Luthers Stil, nicht seine Denkweise oder die Gestalt seines Schrifttums
überhaupt, sagt Walter Ettinghausen ähnlich: If we bear in mind that Luther
was essentially a preacher and Interpreter of the Word, that his thoughts turned
naturally to exegesis and explanation, and that he feit and believed that a
higher Force was speaking through him, then a great deal becomes clear or at
any rate clearer. Nach Ettinghausen trifft sich in Luther a naturally associative
mind mit dem fundamentalen Charakteristikum of the exegetic mind, so daß
die rasche, leichte Assoziation zum wichtigsten Merkmal seines Prosastils wird
(s. o. in Anm. 27, S. 185f.). - Luthers Bibelnähe bedeutet nicht, daß er sie sich
zum literarischen Vorbild macht. Er spricht ihre vielstimmige Sprache, aber er
ahmt ihre Form nur selten nach, am ehesten in offenen Briefen, z. B. an die
Christen in Straßburg (15, 391ff.), in den Niederlanden (12, 77ff.) und Livland
(18, 417ff.).