Kult der Winde in Athen und Kreta
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Opferung der Iphigenie in Aulis. ,Windbannendes Opfer‘ (παυσά-
νεμος Φυσία) nennt sie Aischylos im Agamemnon (214); „sanguine
placastis ventos et virgine caesa“, heißt es bei Vergil (Aen. 2, 116)5
in der Erzählung des Sinon, der sich selbst für ein den Winden be-
stimmtes Opfer ausgibt. Dem lateinischen placare entspricht im Grie-
chischen ίλάσκεσΦαι, und besänftigen, beschwichtigen, versöhnen lie-
ßen sich die Windgötter oder Winddämonen in der Frühzeit offenbar
durch Menschenopfer. So berichtet Herodot (2, 118), daß Menelaos,
als er in Ägypten durch widrige Winde zurückgehalten wurde, zwei
Knaben von Eingeborenen greifen ließ und als Opfer schlachtete
(έντομα σφέα έποίησε). Der Trojaner Chaon soll, nach einer Sagen-
version, bei einem Sturm auf See sich selbst geopfert haben6. Idome-
neus von Kreta gelobte in Sturmesnot, er wolle das erste, was ihm da-
heim begegne, opfern. Es begegnete ihm sein eigener Sohn7.
In jener Frühzeit waren die Winde, die solche Menschenopfer for-
derten, mächtige Wesen von elementarer Gewalt, den Wind- und
Wettergöttern im Vorderen Orient vergleichbar. Dies spiegelt sich
noch bei Homer in der Ilias (XXIII, 194ff.) beim Leichenbegängnis
für Patroklos wider. Der Scheiterhaufen will nicht brennen, da ruft
Achilleus die Winde an8, den Boreas und den Zephyros, verspricht
ihnen schöne Opfer (ιερά καλά), schüttet ihnen eine Trankspende aus
goldenem Humpen und fleht sie an zu kommen. Achilleus betet zu
ihnen wie zu Göttern, und Iris, die Götterbotin, überbringt seine
Wünsche den Winden. Die aber sitzen in Thrakien gerade drinnen
beim Zephyr zu festlichem Schmause versammelt. Iris richtet die Bot-
schaft aus. Da stürmen sie mit göttlichem Brausen davon, Wolken
ballend, das Meer aufwühlend und fachen die ganze Nacht über den
Scheiterhaufen zu heller Lohe an. Erst am Morgen brechen sie wie-
der auf, um heimzukehren (ο’ικόνδε νέεσδαι) über das thrakische Meer.
Daß Thrakien die Heimat der Winde sei, steht für Homer wie für
alle Späteren fest. „Thrakien, der Wohnsitz der Winde“ (άνεμων
οικητήριον), heißt es in einer späten Quelle9 und ebendort lesen wir,
5 Vgl. Servius ad Aen. 2, 116.
6 Servius ad Aen. 3, 297. 334. 335, vgl. Sam Wide, Festschrift Otto Benndorf
(1898) 16; F. Schwenn, Die Menschenopfer bei den Griechen und Römern (1915)
121ff.
7 Servius ad Aen. 3, 121.
8 Achilleus ruft die Winde an, nachdem er kurz zuvor zwei Hunde, vier Pferde
und zwölf gefangene Trojaner am Scheiterhaufen geschlachtet hatte. „Es ist,
als ob uralte, längst gebändigte Roheit ein letztes Mal hervorbräche“ (E. Rohde,
Psyche I 19). 9 Dionysophanes in Schol. Apoll. Rhod. I 826.
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Opferung der Iphigenie in Aulis. ,Windbannendes Opfer‘ (παυσά-
νεμος Φυσία) nennt sie Aischylos im Agamemnon (214); „sanguine
placastis ventos et virgine caesa“, heißt es bei Vergil (Aen. 2, 116)5
in der Erzählung des Sinon, der sich selbst für ein den Winden be-
stimmtes Opfer ausgibt. Dem lateinischen placare entspricht im Grie-
chischen ίλάσκεσΦαι, und besänftigen, beschwichtigen, versöhnen lie-
ßen sich die Windgötter oder Winddämonen in der Frühzeit offenbar
durch Menschenopfer. So berichtet Herodot (2, 118), daß Menelaos,
als er in Ägypten durch widrige Winde zurückgehalten wurde, zwei
Knaben von Eingeborenen greifen ließ und als Opfer schlachtete
(έντομα σφέα έποίησε). Der Trojaner Chaon soll, nach einer Sagen-
version, bei einem Sturm auf See sich selbst geopfert haben6. Idome-
neus von Kreta gelobte in Sturmesnot, er wolle das erste, was ihm da-
heim begegne, opfern. Es begegnete ihm sein eigener Sohn7.
In jener Frühzeit waren die Winde, die solche Menschenopfer for-
derten, mächtige Wesen von elementarer Gewalt, den Wind- und
Wettergöttern im Vorderen Orient vergleichbar. Dies spiegelt sich
noch bei Homer in der Ilias (XXIII, 194ff.) beim Leichenbegängnis
für Patroklos wider. Der Scheiterhaufen will nicht brennen, da ruft
Achilleus die Winde an8, den Boreas und den Zephyros, verspricht
ihnen schöne Opfer (ιερά καλά), schüttet ihnen eine Trankspende aus
goldenem Humpen und fleht sie an zu kommen. Achilleus betet zu
ihnen wie zu Göttern, und Iris, die Götterbotin, überbringt seine
Wünsche den Winden. Die aber sitzen in Thrakien gerade drinnen
beim Zephyr zu festlichem Schmause versammelt. Iris richtet die Bot-
schaft aus. Da stürmen sie mit göttlichem Brausen davon, Wolken
ballend, das Meer aufwühlend und fachen die ganze Nacht über den
Scheiterhaufen zu heller Lohe an. Erst am Morgen brechen sie wie-
der auf, um heimzukehren (ο’ικόνδε νέεσδαι) über das thrakische Meer.
Daß Thrakien die Heimat der Winde sei, steht für Homer wie für
alle Späteren fest. „Thrakien, der Wohnsitz der Winde“ (άνεμων
οικητήριον), heißt es in einer späten Quelle9 und ebendort lesen wir,
5 Vgl. Servius ad Aen. 2, 116.
6 Servius ad Aen. 3, 297. 334. 335, vgl. Sam Wide, Festschrift Otto Benndorf
(1898) 16; F. Schwenn, Die Menschenopfer bei den Griechen und Römern (1915)
121ff.
7 Servius ad Aen. 3, 121.
8 Achilleus ruft die Winde an, nachdem er kurz zuvor zwei Hunde, vier Pferde
und zwölf gefangene Trojaner am Scheiterhaufen geschlachtet hatte. „Es ist,
als ob uralte, längst gebändigte Roheit ein letztes Mal hervorbräche“ (E. Rohde,
Psyche I 19). 9 Dionysophanes in Schol. Apoll. Rhod. I 826.