Sitzungsberichte der
Heidelberger Akademie der Wissenschaften

Kult der Winde in Athen und Kreta

vollen Backen auf einem Tritonmuschelhorn (hier Taf. VIII). Wie
dem auch sei - durch die Linear-B-Tafeln ist für die spätminoische
Zeit eine ,Priesterin der Winde‘ und Windkult an verschiedenen
Kultstätten auf Kreta bezeugt.
Vielleicht ist es bedeutsam, daß auf dem einen Linear-B-Täfel-
chen (Fp 1, 8) neben den anderen Gottheiten und dem Windkult
auch die Erinys erwähnt wird79. Man denkt dabei an das attische Ge-
schlecht der Hesychidai, bei denen man vermutet, daß sie die Auf-
gabe hatten, die Erinyen (oder mit ihrem euphemistischen Namen
Eumeniden oder Semnai) zu beschwichtigen, eine Aufgabe, die der-
jenigen der Heudanemoi, der Windbeschwichtiger, verwandt gewe-
sen ist. Vielleicht ist es auch kein Zufall, daß unter den Windbe-
schwörern der archaischen Zeit Epimenides aus Kreta aufgeführt
wird. In entlegenen Dörfern Kretas wird der uralte Brauch der
Windbeschwörungen noch in unseren Tagen ausgeübt. Die Kunst der
Windbeschwörungen mag sich aus dem Windkult der minoischen
Epoche bis in spätere Zeit erhalten haben. Möglicherweise hatte
überhaupt die Windmagie in Griechenland - wie so vieles andere in
der griechischen Religion - ihren Ursprung im minoischen Kreta.
79 Zu den Erinyen im jünger-antiken Volksglauben auf Kreta vgl. Villets (hier
Anm. 66) 197f.