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Köhler, Erich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1968, 4. Abhandlung): "Conseil des barons" und "jugement des barons": epische Fatalität und Feudalrecht im altfranzösischen Rolandslied ; vorgetragen am 29. 6. 1968 — Heidelberg, 1968

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https://doi.org/10.11588/diglit.44217#0032
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Erich Köhler

seiner Politik, so gerät es in anderen Fällen zu deren Fessel, ja Schei-
tern. Der Charlemagne der ersten Ratsszene spielt souverän mit den
Möglichkeiten, die ihm die Institution bietet, in der zweiten ist er
ihr Gefangener, denn angesichts der militärischen Bedeutung der
Nachhut könnte er Roland und die Pairs nicht ausschließen, da sie
ansonsten die militärisch ebenso wichtige Vorhut bilden. Er kann es
aber auch deshalb nicht, weil die Prärogative, Freiwilligmeldungen
zurückzuweisen, diesmal keine Anwendung findet, sondern Roland
durch Ganelon benannt wird und diese Benennung sogleich die Bil-
ligung der Franken findet. Daß ein Veto des Kaisers oder eine Wei-
gerung Rolands nach dem Präzedenzfall der ersten Ratsszene und
Ganelons gefährlicher Gesandtschaft auch moralisch unmöglich wäre,
mag hier, wo es um die Rechtsnatur des Verfahrens und seinen
Zwangscharakter geht, unberücksichtigt bleiben.
Das Rolandslied bietet den überzeugendsten Beweis für jenen
extrem formalistischen Charakter des mittelalterlichen Rechts, den
die Rechtshistoriker, die freilich von den Literarhistorikern nur sel-
ten gelesen werden, ermittelt haben. Die Einhaltung einer verbind-
lichen Form allein konnte eine Lebensordnung garantieren, die in
der Auflösung der staatlichen Einheit, der partikularistischen, regio-
nalistischen und territorialen zentrifugalen Interessen der Feudal-
gesellschaft die Gefahr der Anarchie zu bannen vermochte. Form-
gebundenheit in Gestalt der Verbindlichkeit des gesprochenen Worts
ist die einzige und daher allgemein respektierte Sicherheit gegen
Willkür in einer Zeit des schriftlich noch nicht fixierten Gewohn-
heitsrechts, das niemand zu verändern, sondern allenfalls auszu-
legen ermächtigt war67. Es kam in der mittelalterlichen Rechtsproze-
dur alles darauf an, die Bedeutung des Worts und den rechten Au-
genblick für seine Äußerung, d. h. die Form zu kennen68. Ganelons
Rache wäre ohne diesen formalistischen Rechtsmechanismus und

07 Vgl. Μ. Bloch, a. a. Ο. I, S. 176: «la coutume, alors la seule source vivante du
droit et que les princes, lors meme qu’ils legiferaient, ne pretendaient guere
qu’interpreter». Zu diesem Gedanken besonders eindringlich F. Kern, Recht
und Verfassung im Mittelalter, Basel 1952, vgl. etwa S. 14f.: «Das Einzelurteil
im Gericht, das wir als besondere Folgerung aus feststehenden allgemeinen
Rechtsnormen auffassen, unterscheidet sich für den mittelalterlichen Denk-
brauch in nichts von der Gesetzgebung der Rechtsgemeinde: beidesmal wird
ein zwar verstecktes, aber doch schon vorhandenes Recht gefunden, nicht
geschaffen . . . Der Grundgedanke bleibt unangetastet, daß das alte Recht wirk-
lich und das wirkliche Recht alt sei».
08 Μ. Bloch, a. a. 0., S. 119: «il convenait de savoir les gestes prescrits et les pa-
 
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