Conseil des barons» und «jugement des barons-
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Ratsszenen des Rolandslieds bei dessen Interpreten zwar oft Ver-
wundern, nie aber Anstoß erregen, so ergibt dieser Umstand bereits
ein Indiz dafür, daß der Dichter sich mit seinem Wagnis jedenfalls
nicht gegen den Geist des Rechts in seiner Zeit verging. Nach allem
was uns die Analyse lehrte, dürfen wir sogar behaupten, daß er, in-
dem er zwei verschiedene Institutionen wider allen faktengeschicht-
lichen Sachverhalt kombinierte, den Geist dieses Rechts in seiner
Bedingtheit durch eine besondere historisch-politische Lage richtiger
und tiefer zur Darstellung gebracht hat als er dies durch wirklich-
keitsgetreues Reproduzieren jener Institutionen zu tun vermocht
hätte.
Für den kühnen Einfall des Rolandsdichters gilt in einem ganz
spezifischen Sinne, was H.-G. Gadamer einmal so ausdrückt: «Die
freie Erfindung des Dichters ist Darstellung einer gemeinsamen
Wahrheit, die auch den Dichter bindet»77. Die hier anvisierte, aller
großen Kunst eigentümliche Dialektik von Freiheit und Notwendig-
keit ist jeweils historisch zu relativieren. Sie impliziert, daß die freie
Erfindung eine echte Abweichung von der Wirklichkeit der Fakten
ist, und daß sie wiederum nicht so «frei» sein darf und kann, daß sie
jene Fakten als Momente der Wirklichkeit ignorierte. Ohne diese
Beschränkung vermöchte die dichterische Erfindung nicht zu leisten,
was sie leisten muß: nämlich kraft des nur Wahrscheinlichen wahrer
zu sein als das Wirkliche, dessen Wesen sich anders hinter seinen
partikulären Erscheinungen unerkennbar verbirgt. Die dichterische
Fabel, die das zuvor abstrahierte Allgemeine und Wesentliche ins
Anschauliche und Erlebbare übersetzt, ist nun freilich gezwungen,
sich ihre eigene Partikularität zu schaffen. Dies kann nicht anders
geschehen als durch Auswahl signifikanter Momente der Wirklich-
keit und durch deren Einbau in den Strukturzusammenhang der
Fabel. Der Prozeß des Intensivierens einer extensiven Wirklichkeit
mittels Auswahl und Neuzuordnung kann bis zu jener Grenze vor-
stoßen, an der die Vergewaltigung der Wirklichkeit beginnt, darf
sie jedoch nicht überschreiten. Vor dem Sturz in den Abgrund ästhe-
bildet das Leben noch eine ungebrochene Einheit. Der Gedanke, daß das Recht
Sonderangelegenheit einiger Spezialisten sei, ist noch nicht aufgekommen. Je-
der lebt im Recht wie in der Religion, jeder kennt es und übt es bewußt als
stolzen Besitz seiner Gemeinschaft. Welcher Dichter hätte es wagen können,
das Recht falsch darzustellen?»
’7 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen
Hermeneutik, Tübingen 19652, S. 127.
3 Köhler, Conseil des barons
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Ratsszenen des Rolandslieds bei dessen Interpreten zwar oft Ver-
wundern, nie aber Anstoß erregen, so ergibt dieser Umstand bereits
ein Indiz dafür, daß der Dichter sich mit seinem Wagnis jedenfalls
nicht gegen den Geist des Rechts in seiner Zeit verging. Nach allem
was uns die Analyse lehrte, dürfen wir sogar behaupten, daß er, in-
dem er zwei verschiedene Institutionen wider allen faktengeschicht-
lichen Sachverhalt kombinierte, den Geist dieses Rechts in seiner
Bedingtheit durch eine besondere historisch-politische Lage richtiger
und tiefer zur Darstellung gebracht hat als er dies durch wirklich-
keitsgetreues Reproduzieren jener Institutionen zu tun vermocht
hätte.
Für den kühnen Einfall des Rolandsdichters gilt in einem ganz
spezifischen Sinne, was H.-G. Gadamer einmal so ausdrückt: «Die
freie Erfindung des Dichters ist Darstellung einer gemeinsamen
Wahrheit, die auch den Dichter bindet»77. Die hier anvisierte, aller
großen Kunst eigentümliche Dialektik von Freiheit und Notwendig-
keit ist jeweils historisch zu relativieren. Sie impliziert, daß die freie
Erfindung eine echte Abweichung von der Wirklichkeit der Fakten
ist, und daß sie wiederum nicht so «frei» sein darf und kann, daß sie
jene Fakten als Momente der Wirklichkeit ignorierte. Ohne diese
Beschränkung vermöchte die dichterische Erfindung nicht zu leisten,
was sie leisten muß: nämlich kraft des nur Wahrscheinlichen wahrer
zu sein als das Wirkliche, dessen Wesen sich anders hinter seinen
partikulären Erscheinungen unerkennbar verbirgt. Die dichterische
Fabel, die das zuvor abstrahierte Allgemeine und Wesentliche ins
Anschauliche und Erlebbare übersetzt, ist nun freilich gezwungen,
sich ihre eigene Partikularität zu schaffen. Dies kann nicht anders
geschehen als durch Auswahl signifikanter Momente der Wirklich-
keit und durch deren Einbau in den Strukturzusammenhang der
Fabel. Der Prozeß des Intensivierens einer extensiven Wirklichkeit
mittels Auswahl und Neuzuordnung kann bis zu jener Grenze vor-
stoßen, an der die Vergewaltigung der Wirklichkeit beginnt, darf
sie jedoch nicht überschreiten. Vor dem Sturz in den Abgrund ästhe-
bildet das Leben noch eine ungebrochene Einheit. Der Gedanke, daß das Recht
Sonderangelegenheit einiger Spezialisten sei, ist noch nicht aufgekommen. Je-
der lebt im Recht wie in der Religion, jeder kennt es und übt es bewußt als
stolzen Besitz seiner Gemeinschaft. Welcher Dichter hätte es wagen können,
das Recht falsch darzustellen?»
’7 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen
Hermeneutik, Tübingen 19652, S. 127.
3 Köhler, Conseil des barons