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Erich Köhler
Empfindung sich noch nicht geschieden haben»84. Diese «Unzer-
schiedenheit» von Empfindung, Wille und Handlung ist es, die in der
verhängnisvollen Auseinandersetzung zwischen Ganelon und Roland
eben nicht nur zwei Charaktere aufeinanderprallen läßt, sondern
zwei konträre Gesinnungen, die ihrerseits zwei grundverschiedene,
den Widerspruch der Feudalgesellschaft selber konstituierende
Gruppeninteressen repräsentieren. Gerade unter der Voraussetzung
der ungebrochenen Einheit von Empfindung und Wille in den Pro-
tagonisten, deren Charakter sich als Funktion von interessenbeding-
ten Gesinnungen erweist, kann der Dichter die Ratsszene zu einer
Situation gestalten, in der das Handeln nicht gewollt, sondern not-
wendig wird, oder in welcher — wenn wir uns noch einmal auf Hegel
berufen dürfen - dem epischen Helden sein Schicksal «gemacht
wird» und die «Macht der Umstände, welche der Tat ihre indi-
viduelle Gestalt aufdringt, dem Menschen sein Los zuteilt, den
Ausgang seiner Handlungen bestimmt»85.
Fassen wir noch einmal die sozialen Gruppen ins Auge, die wir
als Träger widersprüchlicher und kollidierender Wertvorstellungen
erkannten. Die oben getroffenen Feststellungen über die konkreten
politischen und ökonomischen Interessenkonflikte zwischen der
königlichen Gefolgschaft, der maisnee und der Pairs auf der einen,
und der Großvasallen oder Territorialfürsten auf der anderen Seite,
die sich in der folgereichen Auseinandersetzung zwischen Ganelon
und Roland zur Kollision von Gesinnungen und Personen kristalli-
sieren, lassen sich anhand der jünsten Forschungen des französischen
Rechtshistorikers J.-F. Lemarignier noch präzisieren86. Lemarignier
hat den gesamten Bestand der königlichen Urkunden aus den Jah-
ren 987 bis 1108 auf Rang, Amt und Herkunft ihrer Unterzeichner
und Zeugen hin untersucht und damit erstmals volle Klarheit über
die Zusammensetzung dessen gebracht, was man das königliche
Verwaltungs- und politische Zentrum jener Epoche nennen kann.
84 Ästhetik, S. 942.
85 A. a. 0., S. 963. Vgl. S. 974: «... das epische Individuum schließt dies reine
Handeln nach seinem subjektiven Charakter (d. h. das Handeln des dramati-
schen Helden) sowie den Erguß bloß subjektiver Stimmungen und zufälliger
Gefühle aus und hält sich umgekehrt einerseits an die Umstände und deren
Realität, sowie andererseits das, wodurch es bewegt wird, das an und für sich
Gültige, Allgemeine, Sittliche usw. sein muß».
86 Jean-Franfois Lemarignier, Le gouvernement royal aux premiers temps ca-
petiens (987-1108), Paris 1965.
Erich Köhler
Empfindung sich noch nicht geschieden haben»84. Diese «Unzer-
schiedenheit» von Empfindung, Wille und Handlung ist es, die in der
verhängnisvollen Auseinandersetzung zwischen Ganelon und Roland
eben nicht nur zwei Charaktere aufeinanderprallen läßt, sondern
zwei konträre Gesinnungen, die ihrerseits zwei grundverschiedene,
den Widerspruch der Feudalgesellschaft selber konstituierende
Gruppeninteressen repräsentieren. Gerade unter der Voraussetzung
der ungebrochenen Einheit von Empfindung und Wille in den Pro-
tagonisten, deren Charakter sich als Funktion von interessenbeding-
ten Gesinnungen erweist, kann der Dichter die Ratsszene zu einer
Situation gestalten, in der das Handeln nicht gewollt, sondern not-
wendig wird, oder in welcher — wenn wir uns noch einmal auf Hegel
berufen dürfen - dem epischen Helden sein Schicksal «gemacht
wird» und die «Macht der Umstände, welche der Tat ihre indi-
viduelle Gestalt aufdringt, dem Menschen sein Los zuteilt, den
Ausgang seiner Handlungen bestimmt»85.
Fassen wir noch einmal die sozialen Gruppen ins Auge, die wir
als Träger widersprüchlicher und kollidierender Wertvorstellungen
erkannten. Die oben getroffenen Feststellungen über die konkreten
politischen und ökonomischen Interessenkonflikte zwischen der
königlichen Gefolgschaft, der maisnee und der Pairs auf der einen,
und der Großvasallen oder Territorialfürsten auf der anderen Seite,
die sich in der folgereichen Auseinandersetzung zwischen Ganelon
und Roland zur Kollision von Gesinnungen und Personen kristalli-
sieren, lassen sich anhand der jünsten Forschungen des französischen
Rechtshistorikers J.-F. Lemarignier noch präzisieren86. Lemarignier
hat den gesamten Bestand der königlichen Urkunden aus den Jah-
ren 987 bis 1108 auf Rang, Amt und Herkunft ihrer Unterzeichner
und Zeugen hin untersucht und damit erstmals volle Klarheit über
die Zusammensetzung dessen gebracht, was man das königliche
Verwaltungs- und politische Zentrum jener Epoche nennen kann.
84 Ästhetik, S. 942.
85 A. a. 0., S. 963. Vgl. S. 974: «... das epische Individuum schließt dies reine
Handeln nach seinem subjektiven Charakter (d. h. das Handeln des dramati-
schen Helden) sowie den Erguß bloß subjektiver Stimmungen und zufälliger
Gefühle aus und hält sich umgekehrt einerseits an die Umstände und deren
Realität, sowie andererseits das, wodurch es bewegt wird, das an und für sich
Gültige, Allgemeine, Sittliche usw. sein muß».
86 Jean-Franfois Lemarignier, Le gouvernement royal aux premiers temps ca-
petiens (987-1108), Paris 1965.