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Hellmut Flashar
liehe Gesittung der Athener bestehen. Sie bestehen in der sichtbaren
Größe und Macht der Stadt, in einem imperialistischen Expansions-
drang, der überall zu Lande und zu Wasser Spuren des Wagemutes
der Athener hinterlassen hat (40, 2-4). Hier fassen wir nun an die
Wurzel der Perikiesrede: die vorbildliche Gesittung und Gesinnung
soll unter Hinweis auf die Macht als wirklich gesichert gelten, Macht-
demonstration und ethische Praedikationen bedingen sich gegen-
seitig. So darf man auch bei der zusammenfassenden Bestimmung
über die Entfaltung der autarken Persönlichkeit den Zusatz aap’
ppcov nicht außer acht lassen: das freie Individuum entfaltet sich
nicht isoliert, sondern nur im Rahmen der Polis und ihrer Macht-
möglichkeiten50. Wie die Polis im ganzen autark ist, weil sie sich aus
aller Herren Länder alles beschaffen kann (38, 2), so ist der einzelne
nicht im Sinne einer isolierten Selbstgenügsamkeit autark, sondern
weil er sich auf die Machtmittel und -möglichkeiten der Polis stützen
kann. Diese Verbindung zwischen Macht und Menschenbild ist also
für das Verständnis der Rede wesentlich.
Denn Gedanken wie: die Unterworfenen können sich nicht dar-
über beschweren, daß sie von Unwürdigen51 beherrscht werden, oder:
die Athener haben in ihrem Drang, sich zu jedem Meer und Land
Zugang zu verschaffen, überall ewige Denkmäler im Guten und im
Schlimmen52 hinterlassen, weisen auf ein selbstherrliches, ja brutales
50 Vgl. Gomme 127.
51 Über den Gedanken der Würdigkeit in der Ausübung der Herrschaft vgl. J. de
Romilly, a. O. 255, Anm. 1.
52 Die Änderung von xaxcöv in xaZ.cöv durch F. Müller, Die blonde Bestie und
Thukydides, Harv. Stud. 53, 1958, 17Iff. (mit einigen jüngeren Handschriften)
zeigt symptomatisch die Richtung der traditionellen Epitaphiosinterpretation.
Man möchte im Epitaphios ein Idealbild sehen, auch wenn man dazu den Text
ändern muß, weil die Überlieferung ein „unerträglicher Widerspruch“ (Müller)
zum Gedanken der Paideia sei. Die Ablehnung dieser Änderung bedeutet frei-
lich nicht, daß Nietzsches Auffassung der Stelle in der Schrift Zur Genealogie
der Moral richtig wäre. Doch bleibt eine konkrete Erklärung von xaxcöv te xal
dyodRöv schwierig. Zwei Möglichkeiten sind denkbar: Erstens: xaxcöv bezieht
sich auf Niederlagen der Athener. Dann wäre (aus der Sicht von 431) nur an
die aegyptische Expedition zu denken, wie es auch die meisten Interpreten
(Steup, Gomme, Kakridis u. a.) tun. Wilamowitz erklärt: „Daß die Athener bei
Memphis untergegangen sind, beweist die Größe Athens nicht weniger, als daß
sie am Eurymedon gesiegt haben.“ Daß in diesem Sinne gemeisterte Nieder-
lagen auch etwas Rühmliches sind, kann man gut verstehen (vgl. ähnliche Ge-
danken II 43, 1 und I 70, 7). Was aber konkret darunter zu verstehen ist, daß die
Athener „Denkmäler unseres Glückes und unseres Unglückes für alle Zeiten
Hellmut Flashar
liehe Gesittung der Athener bestehen. Sie bestehen in der sichtbaren
Größe und Macht der Stadt, in einem imperialistischen Expansions-
drang, der überall zu Lande und zu Wasser Spuren des Wagemutes
der Athener hinterlassen hat (40, 2-4). Hier fassen wir nun an die
Wurzel der Perikiesrede: die vorbildliche Gesittung und Gesinnung
soll unter Hinweis auf die Macht als wirklich gesichert gelten, Macht-
demonstration und ethische Praedikationen bedingen sich gegen-
seitig. So darf man auch bei der zusammenfassenden Bestimmung
über die Entfaltung der autarken Persönlichkeit den Zusatz aap’
ppcov nicht außer acht lassen: das freie Individuum entfaltet sich
nicht isoliert, sondern nur im Rahmen der Polis und ihrer Macht-
möglichkeiten50. Wie die Polis im ganzen autark ist, weil sie sich aus
aller Herren Länder alles beschaffen kann (38, 2), so ist der einzelne
nicht im Sinne einer isolierten Selbstgenügsamkeit autark, sondern
weil er sich auf die Machtmittel und -möglichkeiten der Polis stützen
kann. Diese Verbindung zwischen Macht und Menschenbild ist also
für das Verständnis der Rede wesentlich.
Denn Gedanken wie: die Unterworfenen können sich nicht dar-
über beschweren, daß sie von Unwürdigen51 beherrscht werden, oder:
die Athener haben in ihrem Drang, sich zu jedem Meer und Land
Zugang zu verschaffen, überall ewige Denkmäler im Guten und im
Schlimmen52 hinterlassen, weisen auf ein selbstherrliches, ja brutales
50 Vgl. Gomme 127.
51 Über den Gedanken der Würdigkeit in der Ausübung der Herrschaft vgl. J. de
Romilly, a. O. 255, Anm. 1.
52 Die Änderung von xaxcöv in xaZ.cöv durch F. Müller, Die blonde Bestie und
Thukydides, Harv. Stud. 53, 1958, 17Iff. (mit einigen jüngeren Handschriften)
zeigt symptomatisch die Richtung der traditionellen Epitaphiosinterpretation.
Man möchte im Epitaphios ein Idealbild sehen, auch wenn man dazu den Text
ändern muß, weil die Überlieferung ein „unerträglicher Widerspruch“ (Müller)
zum Gedanken der Paideia sei. Die Ablehnung dieser Änderung bedeutet frei-
lich nicht, daß Nietzsches Auffassung der Stelle in der Schrift Zur Genealogie
der Moral richtig wäre. Doch bleibt eine konkrete Erklärung von xaxcöv te xal
dyodRöv schwierig. Zwei Möglichkeiten sind denkbar: Erstens: xaxcöv bezieht
sich auf Niederlagen der Athener. Dann wäre (aus der Sicht von 431) nur an
die aegyptische Expedition zu denken, wie es auch die meisten Interpreten
(Steup, Gomme, Kakridis u. a.) tun. Wilamowitz erklärt: „Daß die Athener bei
Memphis untergegangen sind, beweist die Größe Athens nicht weniger, als daß
sie am Eurymedon gesiegt haben.“ Daß in diesem Sinne gemeisterte Nieder-
lagen auch etwas Rühmliches sind, kann man gut verstehen (vgl. ähnliche Ge-
danken II 43, 1 und I 70, 7). Was aber konkret darunter zu verstehen ist, daß die
Athener „Denkmäler unseres Glückes und unseres Unglückes für alle Zeiten