Der Epitaphios des Perikies
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Was Thukydides fasziniert, ist die Klugheit und Besonnenheit,
mit der Perikies in richtiger Abschätzung der Verhältnisse einen
Plan zur Sicherung der Macht entwirft, der paradoxerweise gerade
in dem Verzicht auf äußere Ausdehnung der Macht besteht. Perikies
glaubt, die Unsicherheitsfaktoren der Tyche und die Möglichkeiten
unvernünftigen Verhaltens der Menschen berücksichtigt zu haben
(I 140, 1). Aber diese Unsicherheitsfaktoren sind im Geschehens-
ablauf der Dinge stärker als jede rationale Planung. So kam es dazu,
daß der Plan nicht eingehalten wurde und die Macht Athens zerfiel.
Unter dem Eindruck der gescheiterten athenischen Politik schreibt
Thukydides dieses Kapitel. Aber selbst im Mißlingen der peri-
kleischen Absichten zeigt sich noch die theoretische Richtigkeit seines
Planes. Dabei ist Thukydides auch hier weniger der Apologet als
der Entlarver der das politische Geschehen auslösenden Kräfte. Er
stößt in typisierender, die Konturen überscharf zeichnender Betrach-
tungsweise zu den politischen Denkkategorien des Perikies vor, die
es letztlich doch nicht vermocht haben, das Geschehen zu steuern.
Daß aber Thukydides selbst sich der perikleischen Machtpolitik ver-
schrieben habe, geht daraus nicht hervor. So kann auch hier trotz
der positiven Urteile über die staatsmännischen Fähigkeiten des
Perikies, vor allem im Vergleich zu seinen Nachfolgern, von einer
Identifizierung perikleischen und thukydideischen Denkens keine
Rede sein, mithin aus dem Urteil des Thukydides über Perikies, wenn
man die Prämissen und Kautelen dieses Urteils bedenkt, nicht ab-
geleitet werden, der Inhalt des Epitaphios etwa müsse im ganzen mit
der Meinung des Thukydides übereinstimmen. Gerade wenn das
zusammenfassende Urteil des Thukydides (II 65) Perikies scharf
abhebt nicht nur von seinen Nachfolgern, sondern den Athenern
überhaupt (65, 1-4), erscheint das Bild, das Perikies im Epitaphios
von den Eigenschaften der Athener zeichnet, als eine seltsame Folie
zur Wirklichkeit, wie sie Thukydides mit desillusionierendem Blick
sieht84.
nicht etwa nur jenseits des Gesagten läge, sondern so zum Greifen dicht, so
spürbar in das Werk hineinreichte, so daß man immer wieder sich gezwungen
sieht, das, was gesagt wird, aus dem Nicht-Gesagten zu ergänzen.“
84 Eine derartige Konsequenz würde sich auch ergeben, wenn man grundsätzlich
auf dem Boden des Thukydidesverständnisses von J. de Romilly — um hier
nur die hervorstechendste Interpretation einer bestimmten Forschungsrichtung
zu nennen - steht.
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Was Thukydides fasziniert, ist die Klugheit und Besonnenheit,
mit der Perikies in richtiger Abschätzung der Verhältnisse einen
Plan zur Sicherung der Macht entwirft, der paradoxerweise gerade
in dem Verzicht auf äußere Ausdehnung der Macht besteht. Perikies
glaubt, die Unsicherheitsfaktoren der Tyche und die Möglichkeiten
unvernünftigen Verhaltens der Menschen berücksichtigt zu haben
(I 140, 1). Aber diese Unsicherheitsfaktoren sind im Geschehens-
ablauf der Dinge stärker als jede rationale Planung. So kam es dazu,
daß der Plan nicht eingehalten wurde und die Macht Athens zerfiel.
Unter dem Eindruck der gescheiterten athenischen Politik schreibt
Thukydides dieses Kapitel. Aber selbst im Mißlingen der peri-
kleischen Absichten zeigt sich noch die theoretische Richtigkeit seines
Planes. Dabei ist Thukydides auch hier weniger der Apologet als
der Entlarver der das politische Geschehen auslösenden Kräfte. Er
stößt in typisierender, die Konturen überscharf zeichnender Betrach-
tungsweise zu den politischen Denkkategorien des Perikies vor, die
es letztlich doch nicht vermocht haben, das Geschehen zu steuern.
Daß aber Thukydides selbst sich der perikleischen Machtpolitik ver-
schrieben habe, geht daraus nicht hervor. So kann auch hier trotz
der positiven Urteile über die staatsmännischen Fähigkeiten des
Perikies, vor allem im Vergleich zu seinen Nachfolgern, von einer
Identifizierung perikleischen und thukydideischen Denkens keine
Rede sein, mithin aus dem Urteil des Thukydides über Perikies, wenn
man die Prämissen und Kautelen dieses Urteils bedenkt, nicht ab-
geleitet werden, der Inhalt des Epitaphios etwa müsse im ganzen mit
der Meinung des Thukydides übereinstimmen. Gerade wenn das
zusammenfassende Urteil des Thukydides (II 65) Perikies scharf
abhebt nicht nur von seinen Nachfolgern, sondern den Athenern
überhaupt (65, 1-4), erscheint das Bild, das Perikies im Epitaphios
von den Eigenschaften der Athener zeichnet, als eine seltsame Folie
zur Wirklichkeit, wie sie Thukydides mit desillusionierendem Blick
sieht84.
nicht etwa nur jenseits des Gesagten läge, sondern so zum Greifen dicht, so
spürbar in das Werk hineinreichte, so daß man immer wieder sich gezwungen
sieht, das, was gesagt wird, aus dem Nicht-Gesagten zu ergänzen.“
84 Eine derartige Konsequenz würde sich auch ergeben, wenn man grundsätzlich
auf dem Boden des Thukydidesverständnisses von J. de Romilly — um hier
nur die hervorstechendste Interpretation einer bestimmten Forschungsrichtung
zu nennen - steht.