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Hellmut Flashar
5.
Die neuere Thukydidesforschung hat in zunehmendem Maße er-
kannt, daß Thukydides nicht nur das Geschehen als solches und die
Triebkräfte politischen Handelns darstellt, sondern darüber hinaus
in der Auswahl und Anordnung des Stoffes (einschließlich der Re-
den), in dem, was er mitteilt und vor allem verschweigt, deutende
Akzente setzt und den Zusammenhang des Geschehens in einem fast
tragisch zu nennenden Horizont zur Darstellung bringt85.
Es ist deutlich, daß in dieser Darstellung der Tod des Perikies als
die eigentliche Peripetie im Geschick der Athener angesehen wird.
Doch kommt diese Peripetie nicht unvorbereitet und die Entwicklung
geht nicht so, daß von der Höhe eines Idealzustandes durch den
unerwarteten Tod des Perikies nun plötzlich die Entartung um sich
greift. Vielmehr steht ja das ganze Wirken des Perikies bei Thuky-
dides von vornherein unter dem Zwiespalt zwischen der Rationalität
des perikleischen Planes und der aus dem Augenblick urteilenden
Reaktion der Menge. Sowohl das Stimmungsbild nach dem ersten
Einfall der Peloponnesier (II 21-22) wie die Pestschilderung und
das Urteil des Thukydides über die Menge (II 62, 2-4) machen deut-
lich, daß im Verhalten der Athener insgesamt sich nach dem Tode
des Perikies im Grunde nichts ändert. Der Eindruck einer Entartung
des Demos ergibt sich nur, wenn man den Epitaphios in seinem vor-
dergründigen Sinn isoliert und für bare Münze nimmt. Der Unter-
schied ist also nicht der zwischen einem Idealzustand unter Perikies
und einer späteren Entartung, sondern zwischen einem im Epitaphios
erzeugten Schein und der bereits zu Lebzeiten des Perikies (besonders
durch das Hereinbrechen der Pest) und dann nach seinem Tode im-
mer stärker ans Licht tretenden Wirklichkeit. Die Reflexe des Epita-
phios im übrigen Werk, denen wir nachzugehen haben, erfüllen vor-
nehmlich diese Funktion.
Ebenso ist aber auch das Machtdenken der Athener nach dem Tode
des Perikies im Prinzip das gleiche wie vorher. Das macht ein Ver-
85 Vgl. K. Reinhardt, a. 0., bes. 207: „Das Menschliche, beinahe in jenem Sinne,
den die Tragiker damit verbinden.“ H. Strasburger, Thukydides und die
politische Selbstdarstellung der Athener, a. 0. 30 (= Thuk., Wege d. Forschg.
515) spricht von der „tragischen Grundstimmung . . . des Werkes“. Vgl. dens.,
Die Wesensbestimmung der Geschichte durch die antike Geschichtsschreibung,
a. 0. 19-38. H.-P. Stahl, a. O. hat auf diese Komponente im Werk des Thuky-
dides besonders geachtet.
Hellmut Flashar
5.
Die neuere Thukydidesforschung hat in zunehmendem Maße er-
kannt, daß Thukydides nicht nur das Geschehen als solches und die
Triebkräfte politischen Handelns darstellt, sondern darüber hinaus
in der Auswahl und Anordnung des Stoffes (einschließlich der Re-
den), in dem, was er mitteilt und vor allem verschweigt, deutende
Akzente setzt und den Zusammenhang des Geschehens in einem fast
tragisch zu nennenden Horizont zur Darstellung bringt85.
Es ist deutlich, daß in dieser Darstellung der Tod des Perikies als
die eigentliche Peripetie im Geschick der Athener angesehen wird.
Doch kommt diese Peripetie nicht unvorbereitet und die Entwicklung
geht nicht so, daß von der Höhe eines Idealzustandes durch den
unerwarteten Tod des Perikies nun plötzlich die Entartung um sich
greift. Vielmehr steht ja das ganze Wirken des Perikies bei Thuky-
dides von vornherein unter dem Zwiespalt zwischen der Rationalität
des perikleischen Planes und der aus dem Augenblick urteilenden
Reaktion der Menge. Sowohl das Stimmungsbild nach dem ersten
Einfall der Peloponnesier (II 21-22) wie die Pestschilderung und
das Urteil des Thukydides über die Menge (II 62, 2-4) machen deut-
lich, daß im Verhalten der Athener insgesamt sich nach dem Tode
des Perikies im Grunde nichts ändert. Der Eindruck einer Entartung
des Demos ergibt sich nur, wenn man den Epitaphios in seinem vor-
dergründigen Sinn isoliert und für bare Münze nimmt. Der Unter-
schied ist also nicht der zwischen einem Idealzustand unter Perikies
und einer späteren Entartung, sondern zwischen einem im Epitaphios
erzeugten Schein und der bereits zu Lebzeiten des Perikies (besonders
durch das Hereinbrechen der Pest) und dann nach seinem Tode im-
mer stärker ans Licht tretenden Wirklichkeit. Die Reflexe des Epita-
phios im übrigen Werk, denen wir nachzugehen haben, erfüllen vor-
nehmlich diese Funktion.
Ebenso ist aber auch das Machtdenken der Athener nach dem Tode
des Perikies im Prinzip das gleiche wie vorher. Das macht ein Ver-
85 Vgl. K. Reinhardt, a. 0., bes. 207: „Das Menschliche, beinahe in jenem Sinne,
den die Tragiker damit verbinden.“ H. Strasburger, Thukydides und die
politische Selbstdarstellung der Athener, a. 0. 30 (= Thuk., Wege d. Forschg.
515) spricht von der „tragischen Grundstimmung . . . des Werkes“. Vgl. dens.,
Die Wesensbestimmung der Geschichte durch die antike Geschichtsschreibung,
a. 0. 19-38. H.-P. Stahl, a. O. hat auf diese Komponente im Werk des Thuky-
dides besonders geachtet.