Der Epitaphios des Perikles 45
gleich der Rede der Athener I 73-78, die ja von Gesandten des Peri-
kies gehalten wird und so die offizielle athenische Politik unter Peri-
kies wiedergibt, mit dem Melierdialog beispielhaft deutlich. Die
Athener richten an die Spartaner die Warnung, sich nicht übereilt
in den Krieg zu stürzen (I 73, 1) und untermauern diese Warnung
durch eine Demonstration (nicht Rechtfertigung) ihrer Macht, indem
sie darlegen, daß sie die Macht in einer für sie günstigen historischen
Situation angenommen (I 73, 2ff.), das Gesetz vom Recht des Stär-
keren erkannt und im Hinblick auf ihren Vorteil ausgeübt haben
(I 76, 2), wodurch sie bei ihren Untertanen verhaßt wurden (I 76,
4-77). Rechtsgründe machen nach Meinung der Athener nur die
Schwächeren geltend, wenn es für sie von Vorteil ist (I 76, 2)86. Das
ist also perikleische Machtideologie, sie ist die gleiche, die uns auch
im Epitaphios entgegentrat, wenn man einmal die situationsbe-
dingten Differenzen zwischen beiden Reden außer Betracht läßt87.
86 Es handelt sich um diejenige Rede, die Thukydides nach der Auffassung von
E. Schwartz, a. 0. 102ff. zur Apologie der athenischen Macht bei der Retrakta-
tion den schon vorher komponierten Reden anläßlich der peloponnesischen
Tagsatzung hinzugefügt habe. Auch die meisten neueren Interpreten, die die
analytischen Folgerungen von Schwartz nicht teilen, sehen in der Rede eine
Rechtfertigung der athenischen Macht und stellen den angeblich gemäßigten
Imperialismus des Perikies unter Hinweis auf Stellen wie I 76, 4 (perpia^eiv)
ganz in den Vordergrund, so J. de Romilly, a. 0. 242ff. und ausführlich
L. Reich, Die Rede der Athener in Sparta, Diss. (masch.) Hamburg 1956.
H.-P. Stahl, a. 0. 43 hat demgegenüber überzeugend nachgewiesen, daß es
hier nicht um eine Rechtfertigung der athenischen Macht geht; oüx aneixorco?
73, 1 heißt nicht „nicht zu Unrecht“, sondern „nicht ohne begreifliche Gründe“
(in diesem Punkt urteilt Reich, a. 0. 19, Anm. 1 richtig), weshalb K. v. Fritz,
a. 0. I 641 vorsichtiger formuliert: „Rechtfertigung, wenn auch nicht nach
Rechtsgründen, so doch nach politischen Prinzipien.“ Das Ziel der Rede ist
vielmehr „eine mit Arroganz vorgetragene Darstellung athenischer Macht,
verbunden mit dem Nachweis, daß die Träger dieser Macht gar wohl das
jeglicher Macht zugrundeliegende Gesetz verstanden zu haben glauben und
infolgedessen so fest im Sattel sitzen wie nach menschlicher Erkenntnis möglich“
(Stahl 53). Aus dieser Position der Stärke ist die scheinbare „Mäßigung“
(Athen verfahre gerechter als nach der vorhandenen Macht nötig) als Hohn
zu verstehen. Stahl, a. 0. 49: „Athen kann sich diesen für sein Prestige vorteil-
haften Luxus des ,Rechts' eben erlauben, weil es die Macht so fest in der Hand
hat.“
87 Der Gedanke des Epitaphios, die Athener ließen sich in ihrem Verhältnis zu
den Bundesgenossen nicht vom Vorteil leiten (II 40, 5), ist ein reines Propa-
gandamotiv und nur in dieser Funktion ein Widerspruch zur Athenerrede.
Auf der anderen Seite ist die Rede der Athener eine einzige Begründung für
den höhnischen Satz, die Untertanen Athens könnten sich nicht beschweren,
gleich der Rede der Athener I 73-78, die ja von Gesandten des Peri-
kies gehalten wird und so die offizielle athenische Politik unter Peri-
kies wiedergibt, mit dem Melierdialog beispielhaft deutlich. Die
Athener richten an die Spartaner die Warnung, sich nicht übereilt
in den Krieg zu stürzen (I 73, 1) und untermauern diese Warnung
durch eine Demonstration (nicht Rechtfertigung) ihrer Macht, indem
sie darlegen, daß sie die Macht in einer für sie günstigen historischen
Situation angenommen (I 73, 2ff.), das Gesetz vom Recht des Stär-
keren erkannt und im Hinblick auf ihren Vorteil ausgeübt haben
(I 76, 2), wodurch sie bei ihren Untertanen verhaßt wurden (I 76,
4-77). Rechtsgründe machen nach Meinung der Athener nur die
Schwächeren geltend, wenn es für sie von Vorteil ist (I 76, 2)86. Das
ist also perikleische Machtideologie, sie ist die gleiche, die uns auch
im Epitaphios entgegentrat, wenn man einmal die situationsbe-
dingten Differenzen zwischen beiden Reden außer Betracht läßt87.
86 Es handelt sich um diejenige Rede, die Thukydides nach der Auffassung von
E. Schwartz, a. 0. 102ff. zur Apologie der athenischen Macht bei der Retrakta-
tion den schon vorher komponierten Reden anläßlich der peloponnesischen
Tagsatzung hinzugefügt habe. Auch die meisten neueren Interpreten, die die
analytischen Folgerungen von Schwartz nicht teilen, sehen in der Rede eine
Rechtfertigung der athenischen Macht und stellen den angeblich gemäßigten
Imperialismus des Perikies unter Hinweis auf Stellen wie I 76, 4 (perpia^eiv)
ganz in den Vordergrund, so J. de Romilly, a. 0. 242ff. und ausführlich
L. Reich, Die Rede der Athener in Sparta, Diss. (masch.) Hamburg 1956.
H.-P. Stahl, a. 0. 43 hat demgegenüber überzeugend nachgewiesen, daß es
hier nicht um eine Rechtfertigung der athenischen Macht geht; oüx aneixorco?
73, 1 heißt nicht „nicht zu Unrecht“, sondern „nicht ohne begreifliche Gründe“
(in diesem Punkt urteilt Reich, a. 0. 19, Anm. 1 richtig), weshalb K. v. Fritz,
a. 0. I 641 vorsichtiger formuliert: „Rechtfertigung, wenn auch nicht nach
Rechtsgründen, so doch nach politischen Prinzipien.“ Das Ziel der Rede ist
vielmehr „eine mit Arroganz vorgetragene Darstellung athenischer Macht,
verbunden mit dem Nachweis, daß die Träger dieser Macht gar wohl das
jeglicher Macht zugrundeliegende Gesetz verstanden zu haben glauben und
infolgedessen so fest im Sattel sitzen wie nach menschlicher Erkenntnis möglich“
(Stahl 53). Aus dieser Position der Stärke ist die scheinbare „Mäßigung“
(Athen verfahre gerechter als nach der vorhandenen Macht nötig) als Hohn
zu verstehen. Stahl, a. 0. 49: „Athen kann sich diesen für sein Prestige vorteil-
haften Luxus des ,Rechts' eben erlauben, weil es die Macht so fest in der Hand
hat.“
87 Der Gedanke des Epitaphios, die Athener ließen sich in ihrem Verhältnis zu
den Bundesgenossen nicht vom Vorteil leiten (II 40, 5), ist ein reines Propa-
gandamotiv und nur in dieser Funktion ein Widerspruch zur Athenerrede.
Auf der anderen Seite ist die Rede der Athener eine einzige Begründung für
den höhnischen Satz, die Untertanen Athens könnten sich nicht beschweren,