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Hellmut Flashar
Von der Meinung- des Thukydides sind beide Reden gleich weit ent-
fernt88.
Die gleiche Machtideologie läßt nun auch der Melierdialog (V
84-113) erkennen. Nur ist sie dort schärfer formuliert. Denn der
Verzicht auf „schöne Worte“ (V 89) zur historischen Begründung-
oder sittlichen Rechtfertigung der Macht bedeutet ja, daß der Kern
der athenischen Machtideologie, der in der Athenerrede und im
Epitaphios (II 36) durch „schöne Worte“ bemäntelt war, nun rein,
so wie beide Seiten in Wahrheit denken (d)g exciteqoi ccZr)Occ>g cppo-
voüpev), zum Ausdruck kommen soll. Und in der Tat enthüllt sich im
Melierdialog das gleiche Machtdenken, das auch den Reden des
Perikies (einschließlich des Epitaphios) und seiner Gesandten im
Kern zugrundeliegt89. Denn Recht und Nutzen bilden auch bei Peri-
kies keine Antithese, der Gedanke des Rechts ist dem des Nutzens
eindeutig- untergeordnet90, wie denn der Überfall auf Melos der Sache
nach nicht unperikleisch ist91. So enthüllt Thukydides unmittelbar
von nicht Würdigen beherrscht zu werden (II 41, 3). Die „Würde“ besteht
in der Herrschaft nach dem Gesetz des Stärkeren, vgL 76, 2: d^ioi re dpa
vopi^ovreg...
88 Einen Hinweis darauf, wie Thukydides selbst zu der in der Athenerrede ent-
wickelten Politik steht, gibt I 76, 2: es habe noch niemand, der die Macht ge-
wonnen habe, sich davon abbringen lassen, „mehr zu haben“ (roü pf] irXeov
£%elv). Die Pleonexie, die nach der Aussage der Athener jeder Machtpolitik
eigen ist, bedeutet aber für Thukydides Anfang und Ursache jeder Entartung
(III 82, 8). Nur der kluge Plan des Perikies hatte dieses Streben nach mehr aus
rein taktischen Gründen zeitweilig unterbrochen. Schon die Korintherrede
I 37-43 enthält eine Warnung vor der Pleonexie und eine Mahnung zur Ge-
rechtigkeit an die Athener (I 42, 4).
89 Stahl, a. 0. 48: „Rücksichtsloser ist das Naturrecht des Stärkeren auch im
Melierdialog nicht ausgedrückt.“ Auf die Interpretation des Melierdialoges
braucht im einzelnen hier nicht eingegangen zu werden. Unentbehrlich ist
G. Deininger, Der Melierdialog, Diss. Erlangen 1939. Die verschiedenartigsten
neueren Interpretationen stellt Stahl, a. 0. 159ff. zusammen.
90 Nutzen für den Staat gilt ja auch im Epitaphios als Kriterium für die Arete
(II 42). Über II 40, 5 vgl. S. 24f.
91 Der Überfall auf Aigina (vgl. II 27, 1) und ähnliche Unternehmungen z. T.
aus perikleischer Zeit werden jedenfalls von Xenophon, Hell. II, 2, 3, in einem
Atemzug mit Melos genannt. An diese und ähnliche Machtdemonstrationen
sich erinnernd befürchten die Athener kurz vor Kriegsende, es könne ihnen so
ergehen wie den einst von ihnen Unterworfenen. Die zwischen M. Treu, Athen
und Melos und der Melierdialog des Thukydides, Historia 2, 1953, 253ff.;
3, 1954, 58ff. und W. Eberhardt, Der Melierdialog und die Inschriften ATL
A 9 . .. Historia 8, 1959, 284ff. ausgetragene Kontroverse über Einzelheiten
Hellmut Flashar
Von der Meinung- des Thukydides sind beide Reden gleich weit ent-
fernt88.
Die gleiche Machtideologie läßt nun auch der Melierdialog (V
84-113) erkennen. Nur ist sie dort schärfer formuliert. Denn der
Verzicht auf „schöne Worte“ (V 89) zur historischen Begründung-
oder sittlichen Rechtfertigung der Macht bedeutet ja, daß der Kern
der athenischen Machtideologie, der in der Athenerrede und im
Epitaphios (II 36) durch „schöne Worte“ bemäntelt war, nun rein,
so wie beide Seiten in Wahrheit denken (d)g exciteqoi ccZr)Occ>g cppo-
voüpev), zum Ausdruck kommen soll. Und in der Tat enthüllt sich im
Melierdialog das gleiche Machtdenken, das auch den Reden des
Perikies (einschließlich des Epitaphios) und seiner Gesandten im
Kern zugrundeliegt89. Denn Recht und Nutzen bilden auch bei Peri-
kies keine Antithese, der Gedanke des Rechts ist dem des Nutzens
eindeutig- untergeordnet90, wie denn der Überfall auf Melos der Sache
nach nicht unperikleisch ist91. So enthüllt Thukydides unmittelbar
von nicht Würdigen beherrscht zu werden (II 41, 3). Die „Würde“ besteht
in der Herrschaft nach dem Gesetz des Stärkeren, vgL 76, 2: d^ioi re dpa
vopi^ovreg...
88 Einen Hinweis darauf, wie Thukydides selbst zu der in der Athenerrede ent-
wickelten Politik steht, gibt I 76, 2: es habe noch niemand, der die Macht ge-
wonnen habe, sich davon abbringen lassen, „mehr zu haben“ (roü pf] irXeov
£%elv). Die Pleonexie, die nach der Aussage der Athener jeder Machtpolitik
eigen ist, bedeutet aber für Thukydides Anfang und Ursache jeder Entartung
(III 82, 8). Nur der kluge Plan des Perikies hatte dieses Streben nach mehr aus
rein taktischen Gründen zeitweilig unterbrochen. Schon die Korintherrede
I 37-43 enthält eine Warnung vor der Pleonexie und eine Mahnung zur Ge-
rechtigkeit an die Athener (I 42, 4).
89 Stahl, a. 0. 48: „Rücksichtsloser ist das Naturrecht des Stärkeren auch im
Melierdialog nicht ausgedrückt.“ Auf die Interpretation des Melierdialoges
braucht im einzelnen hier nicht eingegangen zu werden. Unentbehrlich ist
G. Deininger, Der Melierdialog, Diss. Erlangen 1939. Die verschiedenartigsten
neueren Interpretationen stellt Stahl, a. 0. 159ff. zusammen.
90 Nutzen für den Staat gilt ja auch im Epitaphios als Kriterium für die Arete
(II 42). Über II 40, 5 vgl. S. 24f.
91 Der Überfall auf Aigina (vgl. II 27, 1) und ähnliche Unternehmungen z. T.
aus perikleischer Zeit werden jedenfalls von Xenophon, Hell. II, 2, 3, in einem
Atemzug mit Melos genannt. An diese und ähnliche Machtdemonstrationen
sich erinnernd befürchten die Athener kurz vor Kriegsende, es könne ihnen so
ergehen wie den einst von ihnen Unterworfenen. Die zwischen M. Treu, Athen
und Melos und der Melierdialog des Thukydides, Historia 2, 1953, 253ff.;
3, 1954, 58ff. und W. Eberhardt, Der Melierdialog und die Inschriften ATL
A 9 . .. Historia 8, 1959, 284ff. ausgetragene Kontroverse über Einzelheiten