Der Epitaphios des Perikies
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vor dem gefährlichen Unternehmen der sizilischen Expedition den
Imperialismus Athens, wie er von Anfang an bestanden hat und nun
nur radikaler als zuvor ausgesprochen wird. Melierdialog, Athener-
rede und Epitaphios sind also Zeugnisse der gleichen athenischen
Machtideologie auf verschiedenen, situationsbedingten Ebenen. Am
unverhohlensten wird über die Macht im Melierdialog, gleichsam
unter Ausschluß der Öffentlichkeit und hinter verschlossenen Türen,
debattiert, die Athenerrede ist zwar als Warnung auch deutlich ge-
nug, nimmt aber natürlich auf die Öffentlichkeit Rücksicht, vor der
sie gehalten wird, der Epitaphios schließlich umgibt sich als Lobrede
am stärksten mit dem schönen Schein rechtlicher Gesinnung. So stuft
Thukydides die Form der Mitteilung nach der Funktion jeder Rede
in der für sie spezißschen Situation ab, der sachliche Gehalt dieser
Reden ist aber im Kern der gleiche. Für die Meinung des Thukydides
ergibt sich dabei bezüglich des Melierdialoges die gleiche Sachlage
wie bei allen anderen Reden: sie läßt sich nicht auf die eine oder die
andere Seite festlegen92.
Indessen hat Thukydides in allen drei Reden den jeweiligen
Sprechern Worte in den Mund gelegt, die von der höheren Ebene
des Thukydides aus über die Intention des Sprechers hinweg dem
Leser in ironischem Zwielicht erscheinen müssen. Wenn Thukydides
den athenischen Gesandten I 78, 2 die Belehrung an die Spartaner
des historischen Hergangs kann hier außer acht bleiben. Daß die Athener schon
vor dem Peloponnesischen Krieg in der Erweiterung ihrer Macht hart ver-
fuhren, geht aus der Schilderung des Thukydides selbst hervor, bes. I 99. Wei-
tere Belege bei Strasburger, Thukydides und die politische Selbstdarstellung
der Athener, a. 0. 36, Anm. 1. (= Thuk., Wege d. Forschg. 524, Anm. 66).
92 Daß E. Schwartz selbst im Falle des Melierdialogs die Stimme der Athener als
Ausdruck der Meinung des Thukydides ansah, mag in dieser Übersteigerung
die schiefe Fragestellung auch anderer Forscher bei anderen Reden, vor allem
denjenigen des Perikies (besonders des Epitaphios) verdeutlichen. Die Worte
von Schwartz, a. 0. 139 sprechen für sich: „Weil die Melier nicht begreifen wol-
len, daß nach den unabänderlichen Grundsätzen der Politik ein Kleinstaat kein
Recht auf Unabhängigkeit hat und die attischen Forderungen nicht über das
vernünftige Maß hinausgehen, weil sie sich lieber unvernünftigen Hoffnungen
anvertrauen als klar und ruhig die Machtverhältnisse erwägen, muß ein poli-
tisch geschultes Urteil (!) ihrer rückständigen Verbohrtheit das Mitleid ent-
ziehen, das die einfache . . . Erzählung ihres harten Schicksals hervorrufen
würde: mit gutem Grund läßt der Geschichtsschreiber den Athenern das letzte
Wort. Es gab eine Zeit, in der auch Thukydides von der Schroffheit dieses
Macchiavellismus noch weit entfernt war . . .“ Über die weltanschaulichen
Grundlagen dieses und ähnlicher Urteile (aus der nationalistisch empfundenen
eigenen politischen Gegenwart) vgl. jetzt Stahl, a. 0. 12ff.
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vor dem gefährlichen Unternehmen der sizilischen Expedition den
Imperialismus Athens, wie er von Anfang an bestanden hat und nun
nur radikaler als zuvor ausgesprochen wird. Melierdialog, Athener-
rede und Epitaphios sind also Zeugnisse der gleichen athenischen
Machtideologie auf verschiedenen, situationsbedingten Ebenen. Am
unverhohlensten wird über die Macht im Melierdialog, gleichsam
unter Ausschluß der Öffentlichkeit und hinter verschlossenen Türen,
debattiert, die Athenerrede ist zwar als Warnung auch deutlich ge-
nug, nimmt aber natürlich auf die Öffentlichkeit Rücksicht, vor der
sie gehalten wird, der Epitaphios schließlich umgibt sich als Lobrede
am stärksten mit dem schönen Schein rechtlicher Gesinnung. So stuft
Thukydides die Form der Mitteilung nach der Funktion jeder Rede
in der für sie spezißschen Situation ab, der sachliche Gehalt dieser
Reden ist aber im Kern der gleiche. Für die Meinung des Thukydides
ergibt sich dabei bezüglich des Melierdialoges die gleiche Sachlage
wie bei allen anderen Reden: sie läßt sich nicht auf die eine oder die
andere Seite festlegen92.
Indessen hat Thukydides in allen drei Reden den jeweiligen
Sprechern Worte in den Mund gelegt, die von der höheren Ebene
des Thukydides aus über die Intention des Sprechers hinweg dem
Leser in ironischem Zwielicht erscheinen müssen. Wenn Thukydides
den athenischen Gesandten I 78, 2 die Belehrung an die Spartaner
des historischen Hergangs kann hier außer acht bleiben. Daß die Athener schon
vor dem Peloponnesischen Krieg in der Erweiterung ihrer Macht hart ver-
fuhren, geht aus der Schilderung des Thukydides selbst hervor, bes. I 99. Wei-
tere Belege bei Strasburger, Thukydides und die politische Selbstdarstellung
der Athener, a. 0. 36, Anm. 1. (= Thuk., Wege d. Forschg. 524, Anm. 66).
92 Daß E. Schwartz selbst im Falle des Melierdialogs die Stimme der Athener als
Ausdruck der Meinung des Thukydides ansah, mag in dieser Übersteigerung
die schiefe Fragestellung auch anderer Forscher bei anderen Reden, vor allem
denjenigen des Perikies (besonders des Epitaphios) verdeutlichen. Die Worte
von Schwartz, a. 0. 139 sprechen für sich: „Weil die Melier nicht begreifen wol-
len, daß nach den unabänderlichen Grundsätzen der Politik ein Kleinstaat kein
Recht auf Unabhängigkeit hat und die attischen Forderungen nicht über das
vernünftige Maß hinausgehen, weil sie sich lieber unvernünftigen Hoffnungen
anvertrauen als klar und ruhig die Machtverhältnisse erwägen, muß ein poli-
tisch geschultes Urteil (!) ihrer rückständigen Verbohrtheit das Mitleid ent-
ziehen, das die einfache . . . Erzählung ihres harten Schicksals hervorrufen
würde: mit gutem Grund läßt der Geschichtsschreiber den Athenern das letzte
Wort. Es gab eine Zeit, in der auch Thukydides von der Schroffheit dieses
Macchiavellismus noch weit entfernt war . . .“ Über die weltanschaulichen
Grundlagen dieses und ähnlicher Urteile (aus der nationalistisch empfundenen
eigenen politischen Gegenwart) vgl. jetzt Stahl, a. 0. 12ff.