Der Epitaphios des Perikies
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Einer der markantesten Einschnitte in dieser Entwicklung ist die
sog. Pathologie des Krieges (III 82-84), in der Thukydides im eige-
nen Urteil die innere Verfassung der kriegführenden Menschen, hier
in der Folge der Revolution von Kerkyra, charakterisiert94. Entschei-
dend ist dabei die Auffassung, die Menschennatur als solche sei stets
die gleiche (e'oog dv f] aurp cpuaiq dvÜQCüjrcüv p, III 82, 2). Infolgedessen
treten nach der Gesetzmäßigkeit der menschlichen Natur immer unter
ähnlichen Umständen die gleichen Reaktionen auf. Je nach den Um-
ständen zeigt sich die gleiche Menschennatur nach verschiedenen
Erscheinungsformen differenziert (roig Etösai Stp^aypsva). Der fol-
gende Satz ist nun geradezu die thukydideische Interpretation des
Epitaphios: „Im Frieden und unter günstigen Umständen zeigen
Städte und Einzelmenschen eine bessere Gesinnung, weil sie nicht
in ungewollte Zwangslagen geraten.“ Das ist das Bild, das der Epita-
phios bietet: Die Umstände sind noch günstig, die Gesinnung er-
scheint als besser. Sobald die Verhältnisse ungünstig werden, zeigt
die Menschennatur ihr wahres Gesicht. Der Schnitt zwischen sitt-
licher Festigkeit und Entartung liegt also nicht (jedenfalls nicht
primär) zwischen der perikleischen und nachperikleischen Ära, son-
dern zwischen Frieden und Krieg (ev [iev s’tQpvp ... 6 öe jtoÄEpog),
ist also durch die Umstände bedingt. Der unerbittliche Lehrmeister
ist der Krieg selber, der die Möglichkeit nimmt, das täglich Not-
wendige leicht zu beschaffen (vcpfiXcov rpv swcoQtav roü xaü’ ppspav).
Gerade auf das Bestehen dieser Möglichkeit weist Perikies im Epita-
phios stolz hin (II 38, 2); es macht die Autarkie der Stadt aus. Man
sieht in der Deutung des Thukydides die innere Verbindung zur
sittlichen Verfassung der Menschen. Treten die Zwangslagen des
Krieges ein, paßt sich die Menge den Umständen an. Die folgende
Schilderung (III 82, 4-6) von der Umkehr der Werte (Verwegen-
heit gilt als Tapferkeit, Überlegenheit als Trägheit usw.) steht ganz
parallel zur Darstellung der Verwilderung der Sitten beim Eintreten
der Pest (II 53). In beiden Schilderungen weist Thukydides schließ-
lich darauf hin, daß weder göttliches noch menschliches Gesetz ge-
achtet wird (II 53, 5 ~ III 82, 6). Das ganz analoge Verhalten der
Menschen zeigt sich aber im Falle der Pest noch unter Perikies, im
Gefolge der Unruhen in Kerkyra jedoch nach seinem Tode. Der
94 Über die .Pathologie1 im ganzen vgl. F. M. Wassermann, Thucydides and
Disintegration of Polis, in: Trans. Proc. Am. Phil. Ass. 85, 1954, 46ff. ( -
Thuk., Wege der Forschg. 400ff.).
i Flashar, Der Epitaphios des Perikies
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Einer der markantesten Einschnitte in dieser Entwicklung ist die
sog. Pathologie des Krieges (III 82-84), in der Thukydides im eige-
nen Urteil die innere Verfassung der kriegführenden Menschen, hier
in der Folge der Revolution von Kerkyra, charakterisiert94. Entschei-
dend ist dabei die Auffassung, die Menschennatur als solche sei stets
die gleiche (e'oog dv f] aurp cpuaiq dvÜQCüjrcüv p, III 82, 2). Infolgedessen
treten nach der Gesetzmäßigkeit der menschlichen Natur immer unter
ähnlichen Umständen die gleichen Reaktionen auf. Je nach den Um-
ständen zeigt sich die gleiche Menschennatur nach verschiedenen
Erscheinungsformen differenziert (roig Etösai Stp^aypsva). Der fol-
gende Satz ist nun geradezu die thukydideische Interpretation des
Epitaphios: „Im Frieden und unter günstigen Umständen zeigen
Städte und Einzelmenschen eine bessere Gesinnung, weil sie nicht
in ungewollte Zwangslagen geraten.“ Das ist das Bild, das der Epita-
phios bietet: Die Umstände sind noch günstig, die Gesinnung er-
scheint als besser. Sobald die Verhältnisse ungünstig werden, zeigt
die Menschennatur ihr wahres Gesicht. Der Schnitt zwischen sitt-
licher Festigkeit und Entartung liegt also nicht (jedenfalls nicht
primär) zwischen der perikleischen und nachperikleischen Ära, son-
dern zwischen Frieden und Krieg (ev [iev s’tQpvp ... 6 öe jtoÄEpog),
ist also durch die Umstände bedingt. Der unerbittliche Lehrmeister
ist der Krieg selber, der die Möglichkeit nimmt, das täglich Not-
wendige leicht zu beschaffen (vcpfiXcov rpv swcoQtav roü xaü’ ppspav).
Gerade auf das Bestehen dieser Möglichkeit weist Perikies im Epita-
phios stolz hin (II 38, 2); es macht die Autarkie der Stadt aus. Man
sieht in der Deutung des Thukydides die innere Verbindung zur
sittlichen Verfassung der Menschen. Treten die Zwangslagen des
Krieges ein, paßt sich die Menge den Umständen an. Die folgende
Schilderung (III 82, 4-6) von der Umkehr der Werte (Verwegen-
heit gilt als Tapferkeit, Überlegenheit als Trägheit usw.) steht ganz
parallel zur Darstellung der Verwilderung der Sitten beim Eintreten
der Pest (II 53). In beiden Schilderungen weist Thukydides schließ-
lich darauf hin, daß weder göttliches noch menschliches Gesetz ge-
achtet wird (II 53, 5 ~ III 82, 6). Das ganz analoge Verhalten der
Menschen zeigt sich aber im Falle der Pest noch unter Perikies, im
Gefolge der Unruhen in Kerkyra jedoch nach seinem Tode. Der
94 Über die .Pathologie1 im ganzen vgl. F. M. Wassermann, Thucydides and
Disintegration of Polis, in: Trans. Proc. Am. Phil. Ass. 85, 1954, 46ff. ( -
Thuk., Wege der Forschg. 400ff.).
i Flashar, Der Epitaphios des Perikies