Metadaten

Flashar, Hellmut; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1969, 1. Abhandlung): Der Epitaphios des Perikles: seine Funktion im Geschichtswerk d. Thukydides — Heidelberg, 1969

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.44304#0061
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Der Epitaphios des Perikies 51
Plänen nicht erfaßbaren irrationalen Bereich der Tyche doch einer
gewissen Gesetzmäßigkeit zu unterwerfen. Was sich entgegen den
Berechnungen und Erwartungen auch des perikleischen Planes er-
eignet, ist für Thukydides eine immer wieder mögliche Folge von
Stationen auf dem Wege zur Ausprägung einzelner Erscheinungs-
formen menschlichen Verhaltens in typischen Situationen. Stellt sich
der Verlauf des ganzen Krieges gemessen an der machtpolitischen
Rechnung als eine Kette teils durch Fehler verschuldeter, teils von
außen gekommener „Zufälle“ dar, so ordnet sich diese Kette für den
Historiker zu einem einzigen gesetzmäßigen Verlauf, deren Kon-
stante die sich gleichbleibende Menschennatur ist. Von hier aus zeigt
sich erneut, wie verfehlt es ist, einzelne Äußerungen einzelner Redner
über die Rolle der Tyche mit der Auffassung des Thukydides einfach
gleichzusetzen.
Im übrigen ist die Beschleunigung auf dem Wege zur sittlichen
Entartung und damit der Prozeß der inneren Zerrüttung nicht allein
von dem Befolgen oder Nichtbefolgen des perikleischen Kriegsplanes
abhängig, wie man nach dem ,Nachruf' II 65 erwarten müßte. Das
zeigt die von Thukydides von vornherein in ungünstigem Licht ge-
zeichnete Gestalt des Kleon, der sich doch im ganzen an den Plan des
Perikies gehalten hat, der wie Perikies dem Volk unbequeme Wahr-
heiten sagt und der in der Beurteilung politischer Situationen ge-
legentlich mit Perikies übereinstimmt, aber, wie vor allem die Kleon-
Diodotos-Debatte (III 37-48) deutlich macht, den Prozeß der radi-
kalen Entartung auf dem Gebiete des Menschlichen voll in Gang
bringt95.
Dieser Prozeß selbst, der unter Kleon und dann Alkibiades voran-
schreitet und bei dem die ethischen Prädikationen des Epitaphios
immer stärker in ihr Gegenteil verkehrt werden, soll hier im ein-
zelnen nicht mehr dargestellt werden. Doch sei in diesem Zusam-
menhang daran erinnert, daß es unter den führenden Gestalten
bei Thukydides eine gibt, die bis zu einem gewissen Grade außerhalb
des perikleischen und nachperikleischen Machtdenkens steht: Nikias,
dessen Gestalt der Historiker fast zu einem tragischen Schicksal ge-
formt hat. Er hängt alten Vorstellungen der Frömmigkeit und Ge-
95 Über das Verhältnis: Kleon - Perikies vgl. jetzt die ausführlichen und klären-
den Darlegungen von K. v. Fritz, a. 0. I 694ff. Daß die Politik des Kleon der
Sache nach in mancherlei Hinsicht nicht unperikleisch ist, zeigt A. G. Woodhead,
Thucydides’ Portrait of Cleon, Mnemos. S. IV, 13, 1960, 289 (= Thuk., Wege
d. Forschg. 557ff.).
1*
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften