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Flashar, Hellmut; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1969, 1. Abhandlung): Der Epitaphios des Perikles: seine Funktion im Geschichtswerk d. Thukydides — Heidelberg, 1969

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https://doi.org/10.11588/diglit.44304#0063
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Der Epitaphios des Perikies 53
verkehrten Situation ein: als der Lage unangemessenes, aber doch
typisches Gerede, mit dem die Soldaten zum Durchhalten aufge-
peitscht werden sollen". Daß der gleiche Thukydides unter dem
Eindruck der völligen Niederlage den gleichen Epitaphios, den er
hier Nikias fast zitieren läßt, als ein Ideal verstanden habe, erscheint
auf diesem Hintergrund sehr unwahrscheinlich. Worauf es Thuky-
dides hier ankommt, ist etwas anderes. Er will die menschliche
Tragik in der Spannung von Verblendung und Einsicht durch die
Analyse des Verhaltens der Menschen in den Situationen äußerster
Bedrohung sichtbar machen.
Fragen wir am Schluß nach der Funktion des Epitaphios im Werk
des Thukydides, so ergibt sich uns folgendes Bild. Das Werk, wie
es uns jetzt vorliegt99 100, ist in den wichtigen Teilen im ganzen wie
im einzelnen von der Niederlage Athens her und auf diese Nieder-
lage hin komponiert. Stand Thukydides in der Exposition seines
Werkes vor der Frage, wie es zu einer solchen alles Frühere über-
steigenden Machtansammlung überhaupt hat kommen können, so
mußte er vom Ende her die Frage beantworten, warum entgegen
aller rationalen Abschätzung der Machtmittel diese Macht zerbre-
chen konnte. Auf dem Scheitelpunkt dieser zunächst auf- und dann
absteigenden Linie steht als letztes Glied der Exposition der Epita-
phios. Thukydides erkannte das Gesetzmäßige in dem Ablauf des
Geschehens in dem in der menschlichen Natur angelegten Trieb zur
Machtentfaltung, der sich steigert zu Pleonexie und Hybris, welche
durch Fehler, Zufälle und innere Zerrüttungen der Menschen immer
radikalere Formen annimmt und schließlich zum Fall führen mußte.
99 Es fällt auf, daß in den Reden des Nikias im Unterschied zu denen aller an-
deren Redner (einschließlich des Perikies) mehrfach Erwägungen hinsichtlich
der Erfolgschancen angestellt werden, die nicht von den realpolitischen Ge-
gebenheiten ausgehen. Am auffälligsten ist das in der letzten Rede VII 77,
wo im Sinne Herodots mit dem Neid der Götter, mit leeren Hoffnungen (wie
sie sonst nur die Melier im Melierdialog aussprechen) operiert und die Athener
des Mitleids für wert erachtet werden (otzrov .. . aijid)TEQOi ... sop,Ev), das
Kleon als politischen Faktor ausdrücklich ausgeschaltet hatte (III 40, 2) worin
ihm Diodotos folgte (III 48, 1).
100 Die Auffassung, daß die Komposition des thukydideischen Werkes im wesent-
lichen einheitlich ist, setzt sich, nachdem H. Patzer, Das Problem der Geschichts-
schreibung des Thukydides und die thukydideische Frage, Berlin 1937, den
Bann gebrochen hatte, in der neueren Thukydidesforschung immer mehr durch.
Wohl gibt es früher und später geschriebene Partien und daher Unausge-
glichenheiten, diese sind aber von geringerer Bedeutung, als es der früheren
Thukydidesanalyse erschien. Vgl. jetzt K. v. Fritz, a. 0. I 780ff.
 
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