56
Hellmut Flashar • Der Epitaphios des Perikies
element jedes kräftigen und gesunden Staates, der in der Welt und in der
Geschichte etwas bedeuten will“ (551). Was E. Meyer 1919 selbst empfindet,
überträgt er auf Thukydides: „Das Herz schlägt ihm höher, wenn er an ihre
Herrlichkeit und die nun versunkene Machtstellung ihres Reiches denkt“ (551).
Entsprechend heißt es: „Der 4. August 1914 kann niemals wiederkehren; aber
der Geist, der sich an diesem Tage so herrlich offenbarte, muß aus tiefem
Schlummer wieder neugekräftigt erwachen, wenn Deutschland eine Zukunft
beschieden sein soll“ (555). Dem entspricht die Auffassung, „daß Athen inner-
halb der durch seine Interessen gesetzten Grenzen ein gerechtes Regiment ge-
führt hat“ (551). Auch W. Deonna, der zwischen dem peloponnesischen Krieg
und dem 1. Weltkrieg eine Fülle von (z. T. fragwürdigen) Parallelen herstellt,
setzt Athen mit Deutschland in Analogie, aber die Sache wird nun von der
anderen Seite aus gesehen: die imperiale Großmacht, die unfähig ist, aus der
Vergangenheit zu lernen, die ihre Aggression durch humane Schlagworte zu
rechtfertigen sucht (18: „ce meme desir tres humain de justifier leurs actes, de
prouver que leur cause etait la meilleure“), indem sie mit der Realität im
Widerspruch stehende Freiheitsparolen gebraucht (30: „cette liberte dont eile
(Athenes) proclame le principe, et que vante Pericles, n’existe qu’en paroles
jetees au vent de l’agora“), die sich zur Herrschaft über andere berufen fühlt
(33: „maintenant les Atheniens sont ces surhommes qu’ ont pretendu etre les
Germains, une race qui se croit elue pour dominer les autres“), kommt durch
einen „Stratege malheureux“ (6) nach der allem Machtdenken innewohnenden
Eigendynamik zu Fall. Mir scheint, es macht die Größe des Thukydides aus,
daß er nicht auf die eine oder andere Seite festgelegt werden kann, weil in
der Darstellung der historischen Abläufe und Situationen seine persönliche
Parteinahme nicht politischen Programmen gilt, sondern seine Anteilnahme nur
denen (seien es einzelne Menschen oder eine ganze Stadt) gehört, die leidend
vom Krieg betroffen sind (vgl. H. Strasburger, Die Wesensbestimmung der Ge-
schichte durch die Antike Geschichtsschreibung, a. 0. 33). Das aber ist kein
Machtdenken.
Hellmut Flashar • Der Epitaphios des Perikies
element jedes kräftigen und gesunden Staates, der in der Welt und in der
Geschichte etwas bedeuten will“ (551). Was E. Meyer 1919 selbst empfindet,
überträgt er auf Thukydides: „Das Herz schlägt ihm höher, wenn er an ihre
Herrlichkeit und die nun versunkene Machtstellung ihres Reiches denkt“ (551).
Entsprechend heißt es: „Der 4. August 1914 kann niemals wiederkehren; aber
der Geist, der sich an diesem Tage so herrlich offenbarte, muß aus tiefem
Schlummer wieder neugekräftigt erwachen, wenn Deutschland eine Zukunft
beschieden sein soll“ (555). Dem entspricht die Auffassung, „daß Athen inner-
halb der durch seine Interessen gesetzten Grenzen ein gerechtes Regiment ge-
führt hat“ (551). Auch W. Deonna, der zwischen dem peloponnesischen Krieg
und dem 1. Weltkrieg eine Fülle von (z. T. fragwürdigen) Parallelen herstellt,
setzt Athen mit Deutschland in Analogie, aber die Sache wird nun von der
anderen Seite aus gesehen: die imperiale Großmacht, die unfähig ist, aus der
Vergangenheit zu lernen, die ihre Aggression durch humane Schlagworte zu
rechtfertigen sucht (18: „ce meme desir tres humain de justifier leurs actes, de
prouver que leur cause etait la meilleure“), indem sie mit der Realität im
Widerspruch stehende Freiheitsparolen gebraucht (30: „cette liberte dont eile
(Athenes) proclame le principe, et que vante Pericles, n’existe qu’en paroles
jetees au vent de l’agora“), die sich zur Herrschaft über andere berufen fühlt
(33: „maintenant les Atheniens sont ces surhommes qu’ ont pretendu etre les
Germains, une race qui se croit elue pour dominer les autres“), kommt durch
einen „Stratege malheureux“ (6) nach der allem Machtdenken innewohnenden
Eigendynamik zu Fall. Mir scheint, es macht die Größe des Thukydides aus,
daß er nicht auf die eine oder andere Seite festgelegt werden kann, weil in
der Darstellung der historischen Abläufe und Situationen seine persönliche
Parteinahme nicht politischen Programmen gilt, sondern seine Anteilnahme nur
denen (seien es einzelne Menschen oder eine ganze Stadt) gehört, die leidend
vom Krieg betroffen sind (vgl. H. Strasburger, Die Wesensbestimmung der Ge-
schichte durch die Antike Geschichtsschreibung, a. 0. 33). Das aber ist kein
Machtdenken.