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Viktor Pöschl
zet, wolltet ihr nicht.» Diese Geschichte erzählte Kyros den Ioniern
deshalb, weil sie Kyros’ damalige Bitte, von Kroisos abzufallen, nicht
erfüllt hatten, aber jetzt, wo das Reich erobert war, sich Kyros unter-
werfen wollten. Auf die Fabel folgt hier die Erklärung, wie im Gleich-
nis des Menenius Agrippa von den Gliedern, die sich gegen den Ma-
gen empörten. Auch in dieser Hinsicht scheint ein Traditionszu-
sammenhang zwischen Herodot und Livius zu bestehen. Andererseits
zeigt das Auftauchen eines ähnlichen Gleichnisses im 1. Korintherbrief
des Paulus (12, 12-27), das Gleichnis von den Gliedern des Leibes, das
den Leib Christi und die Einigkeit in der Gemeinde veranschaulichen
soll, daß die Gleichnisrede in der Diatribe und in der volkstümlichen
Paränese verwurzelt war. Von hier aus ist auch Römer I zu verstehen,
wo «die breiten Ausführungen über das verwüstete, widernatürliche
Leben» - ich zitiere G. Bornkamm33 - «im Blick auf die Heiden gesagt
waren und, soweit es diese betrifft, bei den frommen Juden auf volle
Zustimmung rechnen konnte. Doch wendet sich das Geschoß alsbald
auf den Juden zurück und trifft ihn selbst, gegen den die Anklage nun
erst recht erhoben wird (2,1): Daher kannst du dich nicht entschuldi-
gen, o Mensch, der du richtest, wer du auch sein magst, denn indem
du den andern richtest, verdammst du dich selber. Denn du, der du
richtest, verübst eben dasselbe.»
Das dramatische Element, das der gleichnishaften Rede inne-
wohnt, - man denke an die Frage, die den Hörer einer solchen Rede
in Spannung halten muß: «Worauf wird das Gleichnis hinauslaufen?»,
oder an den Überraschungseffekt: «Du bist der Mann» - machte sie
auch für das Drama hervorragend geeignet und die antiken Bühnen-
dichter bemächtigten sich des so überaus ergiebigen Kunstmittels.
Dabei ließen sie sich von novellen- und märchenartigen Erzählungen
inspirieren, die wir im einzelnen nicht mehr nachweisen können. Der
schon früher erkannte Zusammenhang zwischen Novelle und Ko-
mödie wirkte sich auch hier aus. Auch später sind novellenartige Er-
zählungen immer wieder dramatisiert worden, und das ist nicht ver-
wunderlich, ist doch die Novelle wie das Drama auf Ereignisse zuge-
spitzt, in denen sich angestaute Spannung entlädt.
Ich möchte nun noch einige Beispiele anführen, um das Weiter-
wirken der antiken und orientalischen Traditionen im europäischen
Theater zu illustrieren und um zu veranschaulichen, wie vielfältig die
33 G. Bornkamm, Paulus, Stuttgart 1919, S.133.
Viktor Pöschl
zet, wolltet ihr nicht.» Diese Geschichte erzählte Kyros den Ioniern
deshalb, weil sie Kyros’ damalige Bitte, von Kroisos abzufallen, nicht
erfüllt hatten, aber jetzt, wo das Reich erobert war, sich Kyros unter-
werfen wollten. Auf die Fabel folgt hier die Erklärung, wie im Gleich-
nis des Menenius Agrippa von den Gliedern, die sich gegen den Ma-
gen empörten. Auch in dieser Hinsicht scheint ein Traditionszu-
sammenhang zwischen Herodot und Livius zu bestehen. Andererseits
zeigt das Auftauchen eines ähnlichen Gleichnisses im 1. Korintherbrief
des Paulus (12, 12-27), das Gleichnis von den Gliedern des Leibes, das
den Leib Christi und die Einigkeit in der Gemeinde veranschaulichen
soll, daß die Gleichnisrede in der Diatribe und in der volkstümlichen
Paränese verwurzelt war. Von hier aus ist auch Römer I zu verstehen,
wo «die breiten Ausführungen über das verwüstete, widernatürliche
Leben» - ich zitiere G. Bornkamm33 - «im Blick auf die Heiden gesagt
waren und, soweit es diese betrifft, bei den frommen Juden auf volle
Zustimmung rechnen konnte. Doch wendet sich das Geschoß alsbald
auf den Juden zurück und trifft ihn selbst, gegen den die Anklage nun
erst recht erhoben wird (2,1): Daher kannst du dich nicht entschuldi-
gen, o Mensch, der du richtest, wer du auch sein magst, denn indem
du den andern richtest, verdammst du dich selber. Denn du, der du
richtest, verübst eben dasselbe.»
Das dramatische Element, das der gleichnishaften Rede inne-
wohnt, - man denke an die Frage, die den Hörer einer solchen Rede
in Spannung halten muß: «Worauf wird das Gleichnis hinauslaufen?»,
oder an den Überraschungseffekt: «Du bist der Mann» - machte sie
auch für das Drama hervorragend geeignet und die antiken Bühnen-
dichter bemächtigten sich des so überaus ergiebigen Kunstmittels.
Dabei ließen sie sich von novellen- und märchenartigen Erzählungen
inspirieren, die wir im einzelnen nicht mehr nachweisen können. Der
schon früher erkannte Zusammenhang zwischen Novelle und Ko-
mödie wirkte sich auch hier aus. Auch später sind novellenartige Er-
zählungen immer wieder dramatisiert worden, und das ist nicht ver-
wunderlich, ist doch die Novelle wie das Drama auf Ereignisse zuge-
spitzt, in denen sich angestaute Spannung entlädt.
Ich möchte nun noch einige Beispiele anführen, um das Weiter-
wirken der antiken und orientalischen Traditionen im europäischen
Theater zu illustrieren und um zu veranschaulichen, wie vielfältig die
33 G. Bornkamm, Paulus, Stuttgart 1919, S.133.