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Gärtner, Hans Armin; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1974, 5. Abhandlung): Cicero und Panaitios: Beobachtungen zu Ciceros "De officiis" ; vorgel. am 12. Jan. 1974 v. Viktor Pöschl — Heidelberg: Winter, 1974

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https://doi.org/10.11588/diglit.45448#0024
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Hans Armin Gärtner

Bei der Verwendung des Satzes aus dem Phaidros ergibt sich
nämlich bei Cicero eine sehr widersprüchliche Formulierung: «Du
siehst die Gestalt und gleichsam das Gesicht des Ehrenhaften, das,
wenn man es mit den Augen wahrnehmen könnte (cerneretur),
wundersame Liebe zur Weisheit, wie Plato sagt, erwecken würde»,
Der Sinn des Bedingungssatzes ist negativ8 und entspricht darin dem
Passus bei Plato ούχ δραται und bei Cicero de fin. 11,52: <oculis non
cernimus>.
ihre Betrachtungen an. Sein und Wahrheit kann man nur dem zuerkennen,
wonach sich die Seele für sich allein ausstreckt. Die Seele erwägt bei sich das
Schöne und Häßliche, das Gute und das Schlechte (186 a 8). In den Eindrücken
(παθήματα) ist keine Erkenntnis, wohl aber in den Schlüssen über sie. Sein und
Wahrheit zu berühren, ist nur da möglich (in der Seele), in jenem Bereich (dem
der Wahrnehmungen) aber nicht. Im Liniengleichnis im Staat (509 c - 511 e 5)
werden die Bereiche des Sichtbaren (ορατόν) und des Denkbaren (νοητόν) unter-
schieden (509 d). Dieselbe strenge Trennung findet man dann im Höhlengleichnis
zwischen dem, was man in der Höhle sehen kann, und dem, was draußen im
Sonnenlicht.
Panaitios kennt ein anderes Sehen im übertragenen Sinn. Das kann man viel-
leicht «ästhetisches Sehen» nennen. Dieses ästhetische Sehen beschreibt er Cic.
de off. 1,14: <Itaque eorum ipsorum, quae aspectu sentiuntur, nullum aliud animal
pulchritudinem, venustatem, convenientiam partium sentit; quam similitudinem
natura ratioque ab oculis ad animum transferens multo etiam magis pulchri-
tudinem, constantiam, ordinem in consiliis factisque conservandam putat ...>.
Die Erkenntnistheorie der Stoa war sensualistisch (Μ. Pohlenz, Stoa, S. 54-63),
insofern vertritt Panaitios mit den eben zitierten Sätzen stoische Lehre. Auch
die Analogie (<quam similitudinerm) war der Stoa für die Bildung der sittlichen
Begriffe wichtig (Μ. Pohlenz, Stoa, S. 58 und Anmerkungsband S. 34), vgl. Cic.
de fin. 111,33 und Seneca, ep. 120,4.
Außerdem ist hier auf die έπιστημονική αϊσ-θ-ησις des Diogenes von Babylon
hinzuweisen (vgl. Anm. 4 in ds. Kap.).
Panaitios hat diese Begriffe, die ursprünglich aus der Literaturkritik stammten,
auf die Ethik übertragen.
Man muß nun in unserer Frage festhalten: Das ästhetische Sehen des Panaitios
ist von der geistigen Schau des Plato qualitativ unterschieden. Dieser qualitative
Unterschied dürfte darin bestehen, daß bei Platos geistiger Schau (s.o.) noetische
Kräfte tätig sind, bei' der des Panaitios ästhetische Kräfte. Das hat dann bei
Panaitios die Folge, daß auf der Objektseite gesprochen werden kann von <spec-
tatur>, <elucet> (§ 98 Mitte).
Die beiden übertragenen Auffassungen vom Sehen, vom noetischen und vom
ästhetischen, werden uns noch im Kapitel über die Einführung des <decorum>
beschäftigen.
Das Eigenwillige bei Panaitios ist, daß er diese auf den Wahrnehmungen be-
ruhenden Vorstellungen vom Sittlichschönen mit dem unsichtbaren Sittlich-
schönen (καλόν) des Plato durch das Zitat irgendwie gleichsetzt. Das bedeutet
eine über die sonstige stoische Auffassung hinausgehende Aufwertung der
Wahrnehmung.
8 Es ist ein Irrealis, eine Deutung als Potentialis der Vergangenheit (was nach
Kühner-Stegmann II, S. 396/2 möglich wäre) wird vom Zusammenhang aus-
geschlossen.
 
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