32
Hans Armin Gärtner
wir dagegen an die Methode des Panaitios bei der Einführung des
<honestum> und des <utile>28, wo er empirisch-induktiv vorging und
dann erst systematisch-dogmatische Aussagen machte, so wird be-
sonders hier bei der Definition des über- und des untergeordneten
<decorum> der Unterschied dieser beiden Einführungen zu der uns
jetzt vorliegenden Einführung des <decorum> deutlich. Μ. Pohlenz29
spricht davon, daß Panaitios auch sonst den empirischen Tatbestand
(so §§ 53-56 und 61) vorlegt, ehe er daraus die Folgerungen zieht.
Daß die Einführung des <decorum> in dieser Form nicht von
Panaitios stammt, macht Cicero selbst durch die Formulierungen
<definiri solet> oder <definiunt> deutlich. In einem Werk, das sich
eingestandenermaßen eng an Panaitios anlehnt, müssen diese Formu-
lierungen so verstanden werden, daß irgendwelche Leute neben
(oder besser: nach) Panaitios diese Definitionen formuliert haben30.
Die Definition des <generale decorum>: «es sei das, was überein-
stimmt mit dem Vorrang des Menschen darin, worin sich sein Wesen
von den übrigen Lebewesen unterscheidet» und die des unterge-
ordneten Teiles (<pars subiecta generis>): «was so mit dem Wesen
übereinstimmt, daß in ihm Maßhalten und Selbstbeherrschung
sichtbar werden und sich dabei die Haltung eines freien Menschen
zeigt»31, entsprechen beim ersten Zusehen auch inhaltlich dem gedank-
lichen Schema übergeordneter-untergeordneter Begriff. Der allgemeine
Vorzug des Menschen gegenüber den Tieren wurde auch am Anfang
der Schrift bei der Herleitung des <honestum> deutlich hervorgehoben
(1,11 <homo autem, quod rationis est particeps>)32; die Definition
des untergeordneten Begriffes entspricht dann den Sätzen der un-
28 Vgl. S. 18 u. 24.
29 Führertum, S. 68.
30 Vgl. S. 14 mit Anm. 6 und de off. 11,86.
31 R. Philippson, Das Sittlichschöne bei Panaitios, Philologus 85, 1930, S. 389,
interpretiert <species liberalis> als <species libertatis>, griechisch etwa είδος
έλευθερίας. Er zieht Tusc. II,21f. heran, wo (nach Panaitios) gesagt wird, daß
im Menschen der Trieb der Vernunft gehorchen solle. Das kann ein erzwungener
Gehorsam sein wie der des Sklaven zum Herrn oder der des braven Sohnes
gegenüber seinem guten Vater. Dieser freie Gehorsam tritt im πρέπον zutage
(vgl. auch de off. 1,14: <species liberalis>). Zu vergleichen sei auch Schiller, Brief
an Körner vom 23. 11.98: «Schönheit ist Freiheit in der Erscheinung». Ähnlich
versteht diese Stelle auch Μ. Pohlenz (Führertum, S. 61), anders L. Labowsky
(S. 10, Anm. 3).
32 L. Labowsky, Der Begriff des πρέπον S. 8/9 weist ausführlich die Übereinstim-
mung der Definition des «generale decorum> mit der Einführung des allgemeinen
<honestum> (1,11-15) nach. Sie zeigt außerdem, daß das Moment des Unter-
schiedenseins des Menschen ein Kernstück der Lehre des Chrysipp war, vgl.
Cic. de fin. IV,28 und 34.
Hans Armin Gärtner
wir dagegen an die Methode des Panaitios bei der Einführung des
<honestum> und des <utile>28, wo er empirisch-induktiv vorging und
dann erst systematisch-dogmatische Aussagen machte, so wird be-
sonders hier bei der Definition des über- und des untergeordneten
<decorum> der Unterschied dieser beiden Einführungen zu der uns
jetzt vorliegenden Einführung des <decorum> deutlich. Μ. Pohlenz29
spricht davon, daß Panaitios auch sonst den empirischen Tatbestand
(so §§ 53-56 und 61) vorlegt, ehe er daraus die Folgerungen zieht.
Daß die Einführung des <decorum> in dieser Form nicht von
Panaitios stammt, macht Cicero selbst durch die Formulierungen
<definiri solet> oder <definiunt> deutlich. In einem Werk, das sich
eingestandenermaßen eng an Panaitios anlehnt, müssen diese Formu-
lierungen so verstanden werden, daß irgendwelche Leute neben
(oder besser: nach) Panaitios diese Definitionen formuliert haben30.
Die Definition des <generale decorum>: «es sei das, was überein-
stimmt mit dem Vorrang des Menschen darin, worin sich sein Wesen
von den übrigen Lebewesen unterscheidet» und die des unterge-
ordneten Teiles (<pars subiecta generis>): «was so mit dem Wesen
übereinstimmt, daß in ihm Maßhalten und Selbstbeherrschung
sichtbar werden und sich dabei die Haltung eines freien Menschen
zeigt»31, entsprechen beim ersten Zusehen auch inhaltlich dem gedank-
lichen Schema übergeordneter-untergeordneter Begriff. Der allgemeine
Vorzug des Menschen gegenüber den Tieren wurde auch am Anfang
der Schrift bei der Herleitung des <honestum> deutlich hervorgehoben
(1,11 <homo autem, quod rationis est particeps>)32; die Definition
des untergeordneten Begriffes entspricht dann den Sätzen der un-
28 Vgl. S. 18 u. 24.
29 Führertum, S. 68.
30 Vgl. S. 14 mit Anm. 6 und de off. 11,86.
31 R. Philippson, Das Sittlichschöne bei Panaitios, Philologus 85, 1930, S. 389,
interpretiert <species liberalis> als <species libertatis>, griechisch etwa είδος
έλευθερίας. Er zieht Tusc. II,21f. heran, wo (nach Panaitios) gesagt wird, daß
im Menschen der Trieb der Vernunft gehorchen solle. Das kann ein erzwungener
Gehorsam sein wie der des Sklaven zum Herrn oder der des braven Sohnes
gegenüber seinem guten Vater. Dieser freie Gehorsam tritt im πρέπον zutage
(vgl. auch de off. 1,14: <species liberalis>). Zu vergleichen sei auch Schiller, Brief
an Körner vom 23. 11.98: «Schönheit ist Freiheit in der Erscheinung». Ähnlich
versteht diese Stelle auch Μ. Pohlenz (Führertum, S. 61), anders L. Labowsky
(S. 10, Anm. 3).
32 L. Labowsky, Der Begriff des πρέπον S. 8/9 weist ausführlich die Übereinstim-
mung der Definition des «generale decorum> mit der Einführung des allgemeinen
<honestum> (1,11-15) nach. Sie zeigt außerdem, daß das Moment des Unter-
schiedenseins des Menschen ein Kernstück der Lehre des Chrysipp war, vgl.
Cic. de fin. IV,28 und 34.