36
Hans Armin Gärtner
Um es deutlich zu sagen: Es geht im folgenden um das Abheben
zweier Tendenzen voneinander, aber nicht um Quellenkritik in dem
Sinne, daß der Text in Panaitios- und Cicero-Schnipselchen zer-
schnitten wird. Alles ist Eigentum Ciceros geworden. Nur meinen
wir, in diesen Gedanken zwei verschiedene Argumentationsarten
feststellen zu können. Wir gehen den Spuren der geistigen Aus-
einandersetzung mit Panaitios nach.
Mit <itaque> (§ 94) setzt ein anderer - wie wir schon sahen (vgl.
S. 30), empirischer - Gedankenzusammenhang ein. Es wird darin
aufgezeigt, daß auch im Bereich der drei übrigen Tugenden
erfahrungsgemäß36 (<dignum et decorum videtur>) ästhetische
Wertmaßstäbe Anwendung finden: <decet - dedecet>; <decora -
indecora>; <ut turpe ... sic indecorum>. An diesen empirischen
Nachweis schlösse37 sich ohne weiteres an: <Est enim quiddam,
idque intellegitur in omni virtute quod deceat>. Damit wäre der
empirische Beweis abgeschlossen, daß es das <decorum> in allen
Tugenden gibt. Im folgenden wird dann gegenüber dem Einwand,
man müsse das <decorum> vom honesturm begrifflich trennen können
- vielleicht als eine Eigenschaft, ein Attribut des <honestum>38 -,
wieder auf die Empirie Bezug genommen, nach der man das <deco-
rum> von der Tugend39 (<re>) in Wirklichkeit nicht trennen kann.
Das bekräftigt der folgende Vergleich: Anmut und Schönheit eines
Körpers kann man nicht von der Gesundheit trennen. Mit diesem
Hinweis auf die Erfahrung im Bereich des Ästhetischen wird das
<decorum> mit dem <honestum> verschmolzen.
Soweit ist der Argumentationszusammenhang konsequent und
auch in seiner empirischen Methode einheitlich. Das <decorum>
kommt in allen Bereichen der Tugenden vor und ist mit der Tugend
untrennbar verschmolzen. Damit ist als Endergebnis dieses Gedanken-
ganges im Bereich der ästhetischen Empirie das <decorum> als den
<virtutes> zugehörig eingeführt. Es wird in diesen Gedanken von § 95
nicht geleugnet, daß man das <decorum> begrifflich (<cogitatione>)
36 L. Labowsky, a.O. S. 8, spricht, obwohl sie sonst ganz anders argumentiert,
von einem «gleichsam empirischen Nachweis».
37 Die Problematik um den hier ausgelassenen Satz <Quare pertinet...» wird in
Kürze besprochen werden.
38 So Labowsky, a.O. S. 9.
39 Interessanterweise wird hier das <decorum> nicht dem <honestum>, sondern der
<virtus> zugeordnet. Dabei wird man von «intellegitur in omni virtute> herkommend
immer noch mehr an die einzelne Tugend denken, als an Tugend = (Gesamt)-
honestas.
Hans Armin Gärtner
Um es deutlich zu sagen: Es geht im folgenden um das Abheben
zweier Tendenzen voneinander, aber nicht um Quellenkritik in dem
Sinne, daß der Text in Panaitios- und Cicero-Schnipselchen zer-
schnitten wird. Alles ist Eigentum Ciceros geworden. Nur meinen
wir, in diesen Gedanken zwei verschiedene Argumentationsarten
feststellen zu können. Wir gehen den Spuren der geistigen Aus-
einandersetzung mit Panaitios nach.
Mit <itaque> (§ 94) setzt ein anderer - wie wir schon sahen (vgl.
S. 30), empirischer - Gedankenzusammenhang ein. Es wird darin
aufgezeigt, daß auch im Bereich der drei übrigen Tugenden
erfahrungsgemäß36 (<dignum et decorum videtur>) ästhetische
Wertmaßstäbe Anwendung finden: <decet - dedecet>; <decora -
indecora>; <ut turpe ... sic indecorum>. An diesen empirischen
Nachweis schlösse37 sich ohne weiteres an: <Est enim quiddam,
idque intellegitur in omni virtute quod deceat>. Damit wäre der
empirische Beweis abgeschlossen, daß es das <decorum> in allen
Tugenden gibt. Im folgenden wird dann gegenüber dem Einwand,
man müsse das <decorum> vom honesturm begrifflich trennen können
- vielleicht als eine Eigenschaft, ein Attribut des <honestum>38 -,
wieder auf die Empirie Bezug genommen, nach der man das <deco-
rum> von der Tugend39 (<re>) in Wirklichkeit nicht trennen kann.
Das bekräftigt der folgende Vergleich: Anmut und Schönheit eines
Körpers kann man nicht von der Gesundheit trennen. Mit diesem
Hinweis auf die Erfahrung im Bereich des Ästhetischen wird das
<decorum> mit dem <honestum> verschmolzen.
Soweit ist der Argumentationszusammenhang konsequent und
auch in seiner empirischen Methode einheitlich. Das <decorum>
kommt in allen Bereichen der Tugenden vor und ist mit der Tugend
untrennbar verschmolzen. Damit ist als Endergebnis dieses Gedanken-
ganges im Bereich der ästhetischen Empirie das <decorum> als den
<virtutes> zugehörig eingeführt. Es wird in diesen Gedanken von § 95
nicht geleugnet, daß man das <decorum> begrifflich (<cogitatione>)
36 L. Labowsky, a.O. S. 8, spricht, obwohl sie sonst ganz anders argumentiert,
von einem «gleichsam empirischen Nachweis».
37 Die Problematik um den hier ausgelassenen Satz <Quare pertinet...» wird in
Kürze besprochen werden.
38 So Labowsky, a.O. S. 9.
39 Interessanterweise wird hier das <decorum> nicht dem <honestum>, sondern der
<virtus> zugeordnet. Dabei wird man von «intellegitur in omni virtute> herkommend
immer noch mehr an die einzelne Tugend denken, als an Tugend = (Gesamt)-
honestas.