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Hans Armin Gärtner
treten», «in die Augen fallen» übersetzt werden müßten. Cicero ver-
wendet jedoch in diesem Zusammenhang beide Bedeutungen. Das
kann man am § 98 zeigen. Dort bringt Cicero die Zweiteilung in das
<generale decorum> und das, das zu den einzelnen Tugenden gehört,
wie wir dies aus dem § 96 kennen. Dem allgemeinen <decorum> ist
dabei folgender Satz gewidmet: («Wenn wir uns rücksichtsvoll den
Menschen gegenüber benehmen), wird bewirkt, daß einerseits jenes
<decorum>, das zur Gesamthonestas gehört, deutlich wird (<appareat>),
wie weit es sich erstreckt, andererseits . . .». Auch hier hat <apparet>
die Bedeutung des Erkennbarseins. Denn es handelt sich um die
theoretische Erkenntnis vom Bereich des <decorum>. «Andererseits»,
so geht es im § 98 weiter, «(wird) dieses (<decorum> deutlich)46, das
in jeder einzelnen Art von Tugend geschaut wird (<spectatur>).» Es
folgt dann der Vergleich mit der Schönheit des Körpers, die die
Augen auf sich lenkt und erfreut; genauso weckt dieses <decorum>,
das im Leben hervorleuchtet (<elucet>), die Zustimmung der Mit-
menschen. Bei dieser Definition des untergeordneten <decorum> be-
finden wir uns einwandfrei im Bereich der ästhetischen Wahr-
nehmung und Empirie.
Werfen wir einen Blick zurück auf die beiden parallelen Defini-
tionen in § 96, so finden wir dort denselben Unterschied. Die Definition
des <generale decorum> («Es sei das, was übereinstimmt mit dem
Vorrang des Menschen . . .») bleibt im Bereich der theoretischen
Erkenntnis; die Definition des untergeordneten <decorum> bringt uns
in den Bereich ästhetischer Wahrnehmung und Empirie (<cum specie
quadam liberali>, vgl. S. 31).
Aus all dem ist der Schluß zu ziehen, daß die Definitionen des
<generale decorum> und die Gedanken, die diesen Definitionen
zugeordnet sind oder diese Definitionen vorbereiten, der theoretischen
Erkenntnis dienen sollen und nicht an die ästhetische Erkenntnis47
appellieren. Diese theoretischen Gedanken sind durch den über-
tragenen Gebrauch der Ausdrücke der Sichtbarkeit gekennzeichnet.
Wir haben sie einem sekundären systematisierenden Interesse zuge-
wiesen48.
München 1959, S. 46; K. Büchner, Vom rechten Handeln, Latein, u. dtsch.
Zürich, Stuttgart 1953, 21964, S. 81: <erschaut wird».
46 Das <appareat> aus der ersten Definition muß man ergänzen; vgl. auch Anhang II.
47 Zur ästhetischen Erkenntnis vgl. Μ. Pohlenz, το πρέπον S. 77ff.
48 Man könnte einwenden, das Nebeneinander der beiden <personae> sei durch
1,107 als dem Panaitios gehörend erwiesen. Doch wird da der <persona>, die durch
den allgemeinen menschlichen Vorrang vor dem Tier bestimmt ist, die «persona»
Hans Armin Gärtner
treten», «in die Augen fallen» übersetzt werden müßten. Cicero ver-
wendet jedoch in diesem Zusammenhang beide Bedeutungen. Das
kann man am § 98 zeigen. Dort bringt Cicero die Zweiteilung in das
<generale decorum> und das, das zu den einzelnen Tugenden gehört,
wie wir dies aus dem § 96 kennen. Dem allgemeinen <decorum> ist
dabei folgender Satz gewidmet: («Wenn wir uns rücksichtsvoll den
Menschen gegenüber benehmen), wird bewirkt, daß einerseits jenes
<decorum>, das zur Gesamthonestas gehört, deutlich wird (<appareat>),
wie weit es sich erstreckt, andererseits . . .». Auch hier hat <apparet>
die Bedeutung des Erkennbarseins. Denn es handelt sich um die
theoretische Erkenntnis vom Bereich des <decorum>. «Andererseits»,
so geht es im § 98 weiter, «(wird) dieses (<decorum> deutlich)46, das
in jeder einzelnen Art von Tugend geschaut wird (<spectatur>).» Es
folgt dann der Vergleich mit der Schönheit des Körpers, die die
Augen auf sich lenkt und erfreut; genauso weckt dieses <decorum>,
das im Leben hervorleuchtet (<elucet>), die Zustimmung der Mit-
menschen. Bei dieser Definition des untergeordneten <decorum> be-
finden wir uns einwandfrei im Bereich der ästhetischen Wahr-
nehmung und Empirie.
Werfen wir einen Blick zurück auf die beiden parallelen Defini-
tionen in § 96, so finden wir dort denselben Unterschied. Die Definition
des <generale decorum> («Es sei das, was übereinstimmt mit dem
Vorrang des Menschen . . .») bleibt im Bereich der theoretischen
Erkenntnis; die Definition des untergeordneten <decorum> bringt uns
in den Bereich ästhetischer Wahrnehmung und Empirie (<cum specie
quadam liberali>, vgl. S. 31).
Aus all dem ist der Schluß zu ziehen, daß die Definitionen des
<generale decorum> und die Gedanken, die diesen Definitionen
zugeordnet sind oder diese Definitionen vorbereiten, der theoretischen
Erkenntnis dienen sollen und nicht an die ästhetische Erkenntnis47
appellieren. Diese theoretischen Gedanken sind durch den über-
tragenen Gebrauch der Ausdrücke der Sichtbarkeit gekennzeichnet.
Wir haben sie einem sekundären systematisierenden Interesse zuge-
wiesen48.
München 1959, S. 46; K. Büchner, Vom rechten Handeln, Latein, u. dtsch.
Zürich, Stuttgart 1953, 21964, S. 81: <erschaut wird».
46 Das <appareat> aus der ersten Definition muß man ergänzen; vgl. auch Anhang II.
47 Zur ästhetischen Erkenntnis vgl. Μ. Pohlenz, το πρέπον S. 77ff.
48 Man könnte einwenden, das Nebeneinander der beiden <personae> sei durch
1,107 als dem Panaitios gehörend erwiesen. Doch wird da der <persona>, die durch
den allgemeinen menschlichen Vorrang vor dem Tier bestimmt ist, die «persona»