Cicero und Panaitios
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Man muß sich zudem auch bewußt werden, daß zwischen der
Auffassung von <apparet> als «wird ersichtlich» und «tritt in Er-
scheinung», «wird augenfällig» die Übergänge fließend sind. Dann
ist es leicht vorzustellen, daß Cicero Gedanken, in denen es Panaitios
mit der έπ^στημονική α’ίσθ-ησις49 zu tun hatte, in allgemeiner und
der geläufigen Auffassung entsprechender Sicht der theoretischen
Erkenntnis zuwies. Deshalb können wir davon sprechen (vgl. S. 43),
daß Cicero bei seinem Systematisierungsbestreben Gedanken des
Panaitios verwendet hat. So dürfte z.B. das Bild von der <honestas>,
in deren Gefolge das <decorum> in Erscheinung tritt (§ 94), eine
Formulierung des Panaitios sein, in der Wert auf die Augenfälligkeit
gelegt wurde. Nur hat sie Cicero in § 94 in einem theoretischen
Zusammenhang verwendet, wie die benachbarten Begriffe: <separari>,
<differentia>, <intellegi>, <explanari> beweisen (vgl. auch S. 29-30).
In der zweiten Definition in § 96 und in dem Satz (Ende 98) über
das <decorum> ,das in jeder Art Tugend geschaut wird, ist eindeutig
von «In-Erscheinung-Treten» und «Aufleuchten» die Rede. Das
dürfte die ursprüngliche Auffassung des Panaitios gewesen sein50.
Eindeutig hebt nämlich der Vergleich mit den Charakteren, die von
den Dichtern auf die Bühne gebracht werden (§§ 97-98), auf das
Sichtbarwerden menschlicher Haltungen ab. Damit wird aber nur
auf die zweite Definition Bezug genommen. Da nun dieser Bühnen-
vergleich unbestritten von Panaitios stammt, haben die zwei De-
finitionen des § 96 und der Satz vom <decorum>, das «geschaut»
wird, ihren festen Platz im ursprünglichen Gedankenzusammenhang.
Von daher gesehen dürfte Panaitios auch bei der empirischen Her-
leitung (jetzt § 94) vom «In-Erscheinung-Treten» gesprochen haben.
In Ciceros Darlegungen bezeichnen diese Ausdrücke, wie wir sahen,
die Evidenz.
Panaitios dürfte also von dem empirischen Nachweis, daß das
<decorum> in allen Tugenden erscheint, zu dem Satz gekommen sein,
daß im <decorum> die <moderatio> und <temperantia> in Erscheinung
entgegengestellt, die der individuellen Eigenart des Einzelnen entspricht. (Vgl.
auch S. 48 und Anm. 64 in ds. Kap.)
49 Μ. Pohlenz, τδ πρέπον, S. 78.
Das griechische φαίνεται, das wohl die Vorlage für Ciceros <apparet> (vgl. Anhang
II) abgegeben haben dürfte, läßt vielfältige Übersetzungen zu.
Vgl. Liddell-Scott, A Greek-English Lexicon s.v. φαίνω B,II,2: of what appears
to the senses, of what is mentally manifest, to be evident, to appear to the Imagina-
tion etc.
50 Vgl. 1,102: ex quo elucebit omnis Constantia omnisque moderatio; vgl. auch
1,104: eluceat und 11,32: perlucet ex iis virtutibus.
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Man muß sich zudem auch bewußt werden, daß zwischen der
Auffassung von <apparet> als «wird ersichtlich» und «tritt in Er-
scheinung», «wird augenfällig» die Übergänge fließend sind. Dann
ist es leicht vorzustellen, daß Cicero Gedanken, in denen es Panaitios
mit der έπ^στημονική α’ίσθ-ησις49 zu tun hatte, in allgemeiner und
der geläufigen Auffassung entsprechender Sicht der theoretischen
Erkenntnis zuwies. Deshalb können wir davon sprechen (vgl. S. 43),
daß Cicero bei seinem Systematisierungsbestreben Gedanken des
Panaitios verwendet hat. So dürfte z.B. das Bild von der <honestas>,
in deren Gefolge das <decorum> in Erscheinung tritt (§ 94), eine
Formulierung des Panaitios sein, in der Wert auf die Augenfälligkeit
gelegt wurde. Nur hat sie Cicero in § 94 in einem theoretischen
Zusammenhang verwendet, wie die benachbarten Begriffe: <separari>,
<differentia>, <intellegi>, <explanari> beweisen (vgl. auch S. 29-30).
In der zweiten Definition in § 96 und in dem Satz (Ende 98) über
das <decorum> ,das in jeder Art Tugend geschaut wird, ist eindeutig
von «In-Erscheinung-Treten» und «Aufleuchten» die Rede. Das
dürfte die ursprüngliche Auffassung des Panaitios gewesen sein50.
Eindeutig hebt nämlich der Vergleich mit den Charakteren, die von
den Dichtern auf die Bühne gebracht werden (§§ 97-98), auf das
Sichtbarwerden menschlicher Haltungen ab. Damit wird aber nur
auf die zweite Definition Bezug genommen. Da nun dieser Bühnen-
vergleich unbestritten von Panaitios stammt, haben die zwei De-
finitionen des § 96 und der Satz vom <decorum>, das «geschaut»
wird, ihren festen Platz im ursprünglichen Gedankenzusammenhang.
Von daher gesehen dürfte Panaitios auch bei der empirischen Her-
leitung (jetzt § 94) vom «In-Erscheinung-Treten» gesprochen haben.
In Ciceros Darlegungen bezeichnen diese Ausdrücke, wie wir sahen,
die Evidenz.
Panaitios dürfte also von dem empirischen Nachweis, daß das
<decorum> in allen Tugenden erscheint, zu dem Satz gekommen sein,
daß im <decorum> die <moderatio> und <temperantia> in Erscheinung
entgegengestellt, die der individuellen Eigenart des Einzelnen entspricht. (Vgl.
auch S. 48 und Anm. 64 in ds. Kap.)
49 Μ. Pohlenz, τδ πρέπον, S. 78.
Das griechische φαίνεται, das wohl die Vorlage für Ciceros <apparet> (vgl. Anhang
II) abgegeben haben dürfte, läßt vielfältige Übersetzungen zu.
Vgl. Liddell-Scott, A Greek-English Lexicon s.v. φαίνω B,II,2: of what appears
to the senses, of what is mentally manifest, to be evident, to appear to the Imagina-
tion etc.
50 Vgl. 1,102: ex quo elucebit omnis Constantia omnisque moderatio; vgl. auch
1,104: eluceat und 11,32: perlucet ex iis virtutibus.