Cicero und Panaitios
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meinen - das Verhältnis des <decorum> zum Gesamthonestum nicht
vorweg bestimmt hatte. Vielleicht hat er an anderer Stelle mit dem
Bilde von der voranschreitenden <honestas> (καλόν) eine andeutende
Aussage über das Verhältnis von πρέπον und καλόν gemacht, auf
eine Folgeerscheinung der theoretischen sind, sagt Diogenes, daß diese Tugenden
auch bei Nichtweisen (φαύλοι) vorkommen, und man könnte es fast so verstehen,
daß sie den theoretischen vorangehen können (Philippson, a.O. S. 375).
Wichtig ist weiter Cic. Tusc. IV,30. Dort wird die Gesundheit der Seele bestimmt:
<cum eius iudicia opinionesque concordant. eaque animi est virtus, quam alii
ipsam temperantiam dicunt esse, alii obtemperantem temperantiae praeceptis,
et eam subsequentem> (έπιγιγνομένην, vgl. Philippson, a.O. S. 379). Die Ansicht
der zweiten Gruppe ist die des Hekaton bei Stobaios. Cicero fährt fort: ob nun
die Gesundheit der Seele selbst <temperantia> sei oder nur deren Folge, sie gebe
es nur beim Weisen. Daneben gebe es allerdings eine Seelengesundheit, die auf
die Unweisen paßt. Tusc. 11,42 wird zu diesem letzten Satz gesagt, daß die un-
theoretischen Tugenden durch Übung und Gewohnheit den Schmerz ertragen
lehren könnten (Philippson, a.O. S. 381).
Es mag also die Meinung dagewesen sein, daß sich die untheoretischen Tugenden
auch bei Unweisen einstellen könnten. Daneben und nicht unbedingt als Wider-
spruch steht der Satz, daß sich die untheoretischen Tugenden als Gefolge der
theoretischen Tugenden einstellen (έπιγίνεσ-9-αι <subsequi>).
Auf dieses Nachfolgen der untheoretischen Tugenden auf die theoretischen
nimmt der Satz aus § 94 Bezug: <decorum tum apparet, cum antegressa est
honestas». (Daneben gibt es noch die <similitudines honesti>, die auch der Unweise
besitzen kann; de off. 111,13, vgl. Philippson, a.O. S. 384.)
Philippson meint nun, daß die Lehre von den untheoretischen Tugenden von
Panaitios stamme, der Name dieser Tugenden stamme aber von seinem Schüler
Hekaton.
Wir sehen die Dinge etwas anders: Nicht nur die Benennung der untheoretischen
Tugenden, sondern auch die entfaltete Lehre stammt von Hekaton. Wie sollte
denn Panaitios etwas so scharf Umrissenes lehren, ohne es einmal beim Namen
zu nennen? Viel näher liegt doch die Deutung, daß Hekaton mit seiner Lehre
von den untheoretischen Tugenden zwischen den eigenwilligen und großzügigen
Ansichten seines Lehrers und der Lehre Chrysipps vermittelt hat. Das schließt
aber nicht aus, daß Panaitios z.B. das Bild von dem <decorum> im Gefolge der
<honestas> entworfen hat, ohne diese Darstellung durch eine «Lehre» abzusichern.
Es dürfte dann vielleicht so sein, daß die Bestimmung des <decorum> als Nach-
folger der <honestas>, also als έπιγιγνόμενον, die in die Lehre Hekatons von den
untheoretischen Tugenden eingebaut worden war, dann von Cicero in seinem
Bestreben, vorweg zu definieren (vgl. de off. 1,7), in den panaitischen Gedanken-
gang eingeschoben worden ist.
Daß diese Satzgruppe (de off. 1,94: <huius vis ea est ... honestas> nicht in den
Gedankenzusammenhang paßt, haben wir oben (S. 29 und 35) gezeigt.
Das <decorum> wird als Nachfolger der <honestas> bezeichnet, also auf den zweiten
Platz verwiesen. Im Widerspruch zu dieser Einschätzung wird bei der allgemeinen
Einleitung des <honestum> (§ 14) von vornherein das <decorum> vorbereitet.
Ferner steht in den §§ 93ff. mit Ausnahme der systematisierenden §§ 94 und 96
hauptsächlich das <decorum> zur Debatte.
Man konnte Panaitios vorwerfen, daß er mit seinem πρέπον die alten Tugenden,
darunter vor allem die σωφροσύνη in den Hintergrund dränge, obwohl der
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meinen - das Verhältnis des <decorum> zum Gesamthonestum nicht
vorweg bestimmt hatte. Vielleicht hat er an anderer Stelle mit dem
Bilde von der voranschreitenden <honestas> (καλόν) eine andeutende
Aussage über das Verhältnis von πρέπον und καλόν gemacht, auf
eine Folgeerscheinung der theoretischen sind, sagt Diogenes, daß diese Tugenden
auch bei Nichtweisen (φαύλοι) vorkommen, und man könnte es fast so verstehen,
daß sie den theoretischen vorangehen können (Philippson, a.O. S. 375).
Wichtig ist weiter Cic. Tusc. IV,30. Dort wird die Gesundheit der Seele bestimmt:
<cum eius iudicia opinionesque concordant. eaque animi est virtus, quam alii
ipsam temperantiam dicunt esse, alii obtemperantem temperantiae praeceptis,
et eam subsequentem> (έπιγιγνομένην, vgl. Philippson, a.O. S. 379). Die Ansicht
der zweiten Gruppe ist die des Hekaton bei Stobaios. Cicero fährt fort: ob nun
die Gesundheit der Seele selbst <temperantia> sei oder nur deren Folge, sie gebe
es nur beim Weisen. Daneben gebe es allerdings eine Seelengesundheit, die auf
die Unweisen paßt. Tusc. 11,42 wird zu diesem letzten Satz gesagt, daß die un-
theoretischen Tugenden durch Übung und Gewohnheit den Schmerz ertragen
lehren könnten (Philippson, a.O. S. 381).
Es mag also die Meinung dagewesen sein, daß sich die untheoretischen Tugenden
auch bei Unweisen einstellen könnten. Daneben und nicht unbedingt als Wider-
spruch steht der Satz, daß sich die untheoretischen Tugenden als Gefolge der
theoretischen Tugenden einstellen (έπιγίνεσ-9-αι <subsequi>).
Auf dieses Nachfolgen der untheoretischen Tugenden auf die theoretischen
nimmt der Satz aus § 94 Bezug: <decorum tum apparet, cum antegressa est
honestas». (Daneben gibt es noch die <similitudines honesti>, die auch der Unweise
besitzen kann; de off. 111,13, vgl. Philippson, a.O. S. 384.)
Philippson meint nun, daß die Lehre von den untheoretischen Tugenden von
Panaitios stamme, der Name dieser Tugenden stamme aber von seinem Schüler
Hekaton.
Wir sehen die Dinge etwas anders: Nicht nur die Benennung der untheoretischen
Tugenden, sondern auch die entfaltete Lehre stammt von Hekaton. Wie sollte
denn Panaitios etwas so scharf Umrissenes lehren, ohne es einmal beim Namen
zu nennen? Viel näher liegt doch die Deutung, daß Hekaton mit seiner Lehre
von den untheoretischen Tugenden zwischen den eigenwilligen und großzügigen
Ansichten seines Lehrers und der Lehre Chrysipps vermittelt hat. Das schließt
aber nicht aus, daß Panaitios z.B. das Bild von dem <decorum> im Gefolge der
<honestas> entworfen hat, ohne diese Darstellung durch eine «Lehre» abzusichern.
Es dürfte dann vielleicht so sein, daß die Bestimmung des <decorum> als Nach-
folger der <honestas>, also als έπιγιγνόμενον, die in die Lehre Hekatons von den
untheoretischen Tugenden eingebaut worden war, dann von Cicero in seinem
Bestreben, vorweg zu definieren (vgl. de off. 1,7), in den panaitischen Gedanken-
gang eingeschoben worden ist.
Daß diese Satzgruppe (de off. 1,94: <huius vis ea est ... honestas> nicht in den
Gedankenzusammenhang paßt, haben wir oben (S. 29 und 35) gezeigt.
Das <decorum> wird als Nachfolger der <honestas> bezeichnet, also auf den zweiten
Platz verwiesen. Im Widerspruch zu dieser Einschätzung wird bei der allgemeinen
Einleitung des <honestum> (§ 14) von vornherein das <decorum> vorbereitet.
Ferner steht in den §§ 93ff. mit Ausnahme der systematisierenden §§ 94 und 96
hauptsächlich das <decorum> zur Debatte.
Man konnte Panaitios vorwerfen, daß er mit seinem πρέπον die alten Tugenden,
darunter vor allem die σωφροσύνη in den Hintergrund dränge, obwohl der