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Hans Armin Gärtner
2) Vom Vordersatz her: Die Dichter werden nach dem Charakter
beurteilen, was einem jeden ziemt, wir aber werden uns gemäß dem
Charakter, den uns die Natur mit großem Vorrang . . . gegeben hat,
benehmen. Der Satz wäre in sich konsequent, entspräche aber dann
ganz dem zweiten Satz (§ 98 Anfang). Dann wäre einer der beiden
Sätze überflüssig.
Die Unstimmigkeit des ersten Satzes, so wie er bei Cicero steht,
und die Parallelität der jeweils ersten Satzhälften legen die Annahme
nahe, daß wir es hier mit einem Eingriff in den ursprünglichen Ge-
dankenzusammenhang zu tun haben, der sich als eine Art Äser-
doppelung bestimmen läßt63. Außerdem schließt der zweite Satz
(<quocirca poetae> . . .) viel besser an die Beispiele aus den Tragödien
am Anfang von § 97 an. Dort war ja auch eine <vitiosa persona> an-
geführt. Der erste Satz unserer Betrachtungen ist also einerseits -
wie gezeigt wurde - ein Fremdkörper in diesem Zusammenhang,
ist eine störende Doppelung. Er bringt aber, so könnte man einwen-
den, etwas Neues, indem er vom Vorrang des Menschen vor dem
Tier spricht64. Diese Bestimmung haben wir aber schon in den
vorangehenden Untersuchungen als dem <generale decorum> zuge-
ordnet gefunden (vgl. S. 32/3). Wie in § 96 besteht bei unseren beiden
Sätzen der Unterschied im Gegenüber von Allgemeinem (dem Vor-
rang des Menschen vor den Tieren, woraus das Gesamthonestum
abgeleitet wird) und dem Besonderen (der vierten Kardinaltugend,
<constantia>, <moderatio>, <temperantia>). Außerdem fehlt beim ersten
Satz das Entscheidende, das «Beurteilen»65. Aus dem Streben nach
Systematisierung wurde hier wieder die Definition des <generale
decorurm eingeführt. Läßt man diesen ersten Satz <Sed poetae
63 Hier ist darauf hinzuweisen, daß die meisten Anstöße in den Paragraphen, die
der Einleitung des <decorum> gewidmet sind (96-96), in der Forschung als Doppel-
fassung aufgefaßt worden sind. So kam man auch ja auf die These von den
Marginalien.
64 Nach den §§ 107/108 haben die Menschen (zunächst) zwei Rollen: eine, die dem
Vorrang vor den Tieren entspricht, und eine andere, die durch die persönlichen
Anlagen bestimmt wird. Nach den §§ 97/98 hätten wir eigentlich auch zwei
Charaktere, einen, der mit dem Vorrang vor den Tieren zu tun hat, und einen
anderen, der von den Einzeltugenden bestimmt ist. Dabei ist aber der Unterschied
in der jeweils zweiten Position zu beachten.
Es ist nun allgemein anerkannt, daß die Lehre vom ethischen πρέπον bei Panaitios
ihren Schwerpunkt in der Rechtfertigung der Einzelpersönlichkeit hat (vgl. Μ.
Pohlenz, Führertum, S. 69). Warum sollte Panaitios durch eine vorausgehende
andere Zwei-Rollenlehre in §§ 9719% die Leser in die Irre führen?
65 Entsprechend fehlt auch bei der ersten Definition des § 96 das für des Panaitios
πρέπον kennzeichnende In-Erscheinung-Treten.
Hans Armin Gärtner
2) Vom Vordersatz her: Die Dichter werden nach dem Charakter
beurteilen, was einem jeden ziemt, wir aber werden uns gemäß dem
Charakter, den uns die Natur mit großem Vorrang . . . gegeben hat,
benehmen. Der Satz wäre in sich konsequent, entspräche aber dann
ganz dem zweiten Satz (§ 98 Anfang). Dann wäre einer der beiden
Sätze überflüssig.
Die Unstimmigkeit des ersten Satzes, so wie er bei Cicero steht,
und die Parallelität der jeweils ersten Satzhälften legen die Annahme
nahe, daß wir es hier mit einem Eingriff in den ursprünglichen Ge-
dankenzusammenhang zu tun haben, der sich als eine Art Äser-
doppelung bestimmen läßt63. Außerdem schließt der zweite Satz
(<quocirca poetae> . . .) viel besser an die Beispiele aus den Tragödien
am Anfang von § 97 an. Dort war ja auch eine <vitiosa persona> an-
geführt. Der erste Satz unserer Betrachtungen ist also einerseits -
wie gezeigt wurde - ein Fremdkörper in diesem Zusammenhang,
ist eine störende Doppelung. Er bringt aber, so könnte man einwen-
den, etwas Neues, indem er vom Vorrang des Menschen vor dem
Tier spricht64. Diese Bestimmung haben wir aber schon in den
vorangehenden Untersuchungen als dem <generale decorum> zuge-
ordnet gefunden (vgl. S. 32/3). Wie in § 96 besteht bei unseren beiden
Sätzen der Unterschied im Gegenüber von Allgemeinem (dem Vor-
rang des Menschen vor den Tieren, woraus das Gesamthonestum
abgeleitet wird) und dem Besonderen (der vierten Kardinaltugend,
<constantia>, <moderatio>, <temperantia>). Außerdem fehlt beim ersten
Satz das Entscheidende, das «Beurteilen»65. Aus dem Streben nach
Systematisierung wurde hier wieder die Definition des <generale
decorurm eingeführt. Läßt man diesen ersten Satz <Sed poetae
63 Hier ist darauf hinzuweisen, daß die meisten Anstöße in den Paragraphen, die
der Einleitung des <decorum> gewidmet sind (96-96), in der Forschung als Doppel-
fassung aufgefaßt worden sind. So kam man auch ja auf die These von den
Marginalien.
64 Nach den §§ 107/108 haben die Menschen (zunächst) zwei Rollen: eine, die dem
Vorrang vor den Tieren entspricht, und eine andere, die durch die persönlichen
Anlagen bestimmt wird. Nach den §§ 97/98 hätten wir eigentlich auch zwei
Charaktere, einen, der mit dem Vorrang vor den Tieren zu tun hat, und einen
anderen, der von den Einzeltugenden bestimmt ist. Dabei ist aber der Unterschied
in der jeweils zweiten Position zu beachten.
Es ist nun allgemein anerkannt, daß die Lehre vom ethischen πρέπον bei Panaitios
ihren Schwerpunkt in der Rechtfertigung der Einzelpersönlichkeit hat (vgl. Μ.
Pohlenz, Führertum, S. 69). Warum sollte Panaitios durch eine vorausgehende
andere Zwei-Rollenlehre in §§ 9719% die Leser in die Irre führen?
65 Entsprechend fehlt auch bei der ersten Definition des § 96 das für des Panaitios
πρέπον kennzeichnende In-Erscheinung-Treten.