Cicero und Panaitios
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iudicabunt . . . animalium reliquarum> weg, so wird deutlich, daß
die Tätigkeit der Dichter nicht mit der Tätigkeit der Natur ver-
glichen werden kann, sondern mit der Tätigkeit der Menschen. Diese
Tätigkeit besteht im «Beurteilen» dessen, was dem jeweiligen Charak-
ter - sei er vom Mythos oder von der Natur gegeben - ziemt, und
dies im Hinblick auf die Zuschauer bzw. Mitmenschen, die uns
dafür mit Beifall bzw. <approbatio> belohnen86.
Daß für die Dichter die in der Überlieferung vorgegebene Gestalt
bestimmend ist und daß es auf das rechte Urteilen ankommt, sagt
auch Horaz (de arte poetica 119-124):
aut famam sequere aut sibi convenientia finge
scriptor. honoratum si forte reponis Achillem,
inpiger, iracundus, inexorabilis, acer
iura neget sibi nata, nihil non adroget armis.
sit Medea ferox invictaque, flebilis Ino,
perfidus Ixion, Io vaga, tristis Orestes
und 309-316
scribendi recte sapere est et principium et fons.
rem tibi Socraticae poterunt ostendere chartae,
66 Voll ausgeführt hat der Vergleich diese Form:
die mythische Tradition die Natur
gibt den Helden gibt den Menschen
ihren Charakter ihre Rolle.
<decorum> ist, was dem jeweiligen Charakter ziemt. Wenn das beachtet wird
(hier steht das <iudicare>), so ernten
die Dichter die Menschen
beim Publikum bei den Mitmenschen
Beifall <approbatio>
Ein erster Einwand gegen diese Deutung wäre, daß der <Mythos> nicht genannt
wird. Unser <Mythos> ist ja auch eine Abstraktion für die vielen Mythen, die bei
Homer, Hesiod und den anderen frühen Dichtern überliefert werden. Genau
genommen haben ja die frühen Dichter, bes. Homer, an dem Charakter der
mythischen Gestalten (wie Odysseus, Aias, Achill) entscheidenden Anteil. Also
muß man in unserem Schema das Wort <Mythos> verstehen als «der von älteren
Dichtern erzählte Mythos». Allerdings beruft sich Euripides bei Aristophanes,
Frösche 1052, darauf, daß er den λόγος über (die böse) Phaidra schon vorfand.
In dem <decorum, quod poetae sequuntur> dürfte impliziert sein, daß man sich
nach den traditionellen, von älteren Dichtern geformten Charakteren richten
soll (vgl. dazu Μ. Pohlenz, τδ πρέπον, S. 67).
Es darf auch nicht stören, daß die Natur zweimal auftritt: einmal als Charakter-
geberin, dann als Lehrerin der <reverentia> (§ 98 Mitte). Bei den Dichtern ist
es doch selbstverständlich, daß sie die Gunst des Publikums zu gewinnen trachten,
bei den Menschen gibt es den Eigenbrötler und den Misanthropen.
4 Gärtner, Cicero und Panaitios
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iudicabunt . . . animalium reliquarum> weg, so wird deutlich, daß
die Tätigkeit der Dichter nicht mit der Tätigkeit der Natur ver-
glichen werden kann, sondern mit der Tätigkeit der Menschen. Diese
Tätigkeit besteht im «Beurteilen» dessen, was dem jeweiligen Charak-
ter - sei er vom Mythos oder von der Natur gegeben - ziemt, und
dies im Hinblick auf die Zuschauer bzw. Mitmenschen, die uns
dafür mit Beifall bzw. <approbatio> belohnen86.
Daß für die Dichter die in der Überlieferung vorgegebene Gestalt
bestimmend ist und daß es auf das rechte Urteilen ankommt, sagt
auch Horaz (de arte poetica 119-124):
aut famam sequere aut sibi convenientia finge
scriptor. honoratum si forte reponis Achillem,
inpiger, iracundus, inexorabilis, acer
iura neget sibi nata, nihil non adroget armis.
sit Medea ferox invictaque, flebilis Ino,
perfidus Ixion, Io vaga, tristis Orestes
und 309-316
scribendi recte sapere est et principium et fons.
rem tibi Socraticae poterunt ostendere chartae,
66 Voll ausgeführt hat der Vergleich diese Form:
die mythische Tradition die Natur
gibt den Helden gibt den Menschen
ihren Charakter ihre Rolle.
<decorum> ist, was dem jeweiligen Charakter ziemt. Wenn das beachtet wird
(hier steht das <iudicare>), so ernten
die Dichter die Menschen
beim Publikum bei den Mitmenschen
Beifall <approbatio>
Ein erster Einwand gegen diese Deutung wäre, daß der <Mythos> nicht genannt
wird. Unser <Mythos> ist ja auch eine Abstraktion für die vielen Mythen, die bei
Homer, Hesiod und den anderen frühen Dichtern überliefert werden. Genau
genommen haben ja die frühen Dichter, bes. Homer, an dem Charakter der
mythischen Gestalten (wie Odysseus, Aias, Achill) entscheidenden Anteil. Also
muß man in unserem Schema das Wort <Mythos> verstehen als «der von älteren
Dichtern erzählte Mythos». Allerdings beruft sich Euripides bei Aristophanes,
Frösche 1052, darauf, daß er den λόγος über (die böse) Phaidra schon vorfand.
In dem <decorum, quod poetae sequuntur> dürfte impliziert sein, daß man sich
nach den traditionellen, von älteren Dichtern geformten Charakteren richten
soll (vgl. dazu Μ. Pohlenz, τδ πρέπον, S. 67).
Es darf auch nicht stören, daß die Natur zweimal auftritt: einmal als Charakter-
geberin, dann als Lehrerin der <reverentia> (§ 98 Mitte). Bei den Dichtern ist
es doch selbstverständlich, daß sie die Gunst des Publikums zu gewinnen trachten,
bei den Menschen gibt es den Eigenbrötler und den Misanthropen.
4 Gärtner, Cicero und Panaitios