Cicero und Panaitios
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praktische Ethik. Die Formulierung im Brief an Atticus (προσφωνώ)
könnte vermuten lassen, daß diese Widmung nur eine äußere Zutat
sei; doch zeigt eine Reihe von Stellen2, daß sich Cicero der Rolle,
die er in dieser Schrift spielt, nicht nur in der Einleitung bewußt ist
Und aus dieser besonderen Rolle erklären sich auch die Veränderun-
gen und Erweiterungen, die Cicero an der Schrift des Panaitios vorge-
nommen hat.
Selbstverständlich ist da die Absicht zu belehren. Von daher kommt
sein fast pedantisches Drängen auf methodische Korrektheit. Natür-
lich wollte auch Panaitios belehren. Doch wird Ciceros stärkerer
pädagogischer Impetus im Streben nach systematischer und didak-
tischer Klarheit deutlich. Hier dürfte seine rhetorische Schulung von
Bedeutung sein. Vor allem aber bestimmt ihn die oben beschriebene
Situation. Er muß seinem Sohn, der bei Cratippus Philosophie hört,
zeigen, daß er das Handwerk des Philosophen beherrscht; so z.B.
daß man vor Beginn der Unterweisung das Thema definiert (1,7:
<omnis enim, quae ratione suscipitur de aliqua re institutio, debet a
definitione proficisci, ut intellegatur, quid sit id de quo disputetur>).
Weiter muß Cicero seinem Sohn, der in der Philosophie unter-
richtet wird, zeigen, daß er die Schulkritik an Panaitios kennt, daß
er sozusagen einen Überblick über die Sekundärliteratur hat. Weiter-
hin betont Cicero (1,6 Ende) sein eigenes kritisches Urteil (<iudicio
arbitrioque nostro>) gegenüber seinen stoischen Gewährsmännern.
Diese Tendenzen haben wir besonders bei den Darlegungen und
der Bewertung des <decorum> am Werk gesehen; sie haben, wie wir
eben sahen, in der konkreten Situation Ciceros den «Sitz im Leben».
Zum Abschluß sollte man sich vielleicht einmal vor Augen stellen,
welche Rolle Cicero in den anderen philosophischen Schriften
spielt: Er ist Berichterstatter eines Gesprächs (de re publica), er ist
Gesprächspartner (de divinatione), er ist Lehrer (Tusculanae dispu-
tationes) und er verfaßt in unserem Fall einen Brief an seinen Sohn.
2 In den Einleitungen wendet sich Cicero an seinen Sohn: 1,1-3; 11,1; 8; 111,1;
5 und 6.
In den Erörterungen: 1,15; 78; 151 Ende; 11,44; 111,33; 53; 67; 68; 81 und 121.
Cicero ist sich bewußt, daß der Sohn seine Darlegungen mit dem, was er bei
Cratippus hört, vergleichen wird. 111,33: <sic ego a te postulo, mi Cicero, ut mihi
concedas, si potes, nihil praeter id, quod honestum sit, propter se esse expetendum.
Sin hoc non licet per Cratippum, at illud certe dabis, quod honestum sit, id esse
maxime propter se expetendum.> -
Vgl. auch III,5, und 111,121: <quamquam hi tibi tres libri inter Cratippi com-
mentarios tamquam hospites erunt recipiendi.»
5*
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praktische Ethik. Die Formulierung im Brief an Atticus (προσφωνώ)
könnte vermuten lassen, daß diese Widmung nur eine äußere Zutat
sei; doch zeigt eine Reihe von Stellen2, daß sich Cicero der Rolle,
die er in dieser Schrift spielt, nicht nur in der Einleitung bewußt ist
Und aus dieser besonderen Rolle erklären sich auch die Veränderun-
gen und Erweiterungen, die Cicero an der Schrift des Panaitios vorge-
nommen hat.
Selbstverständlich ist da die Absicht zu belehren. Von daher kommt
sein fast pedantisches Drängen auf methodische Korrektheit. Natür-
lich wollte auch Panaitios belehren. Doch wird Ciceros stärkerer
pädagogischer Impetus im Streben nach systematischer und didak-
tischer Klarheit deutlich. Hier dürfte seine rhetorische Schulung von
Bedeutung sein. Vor allem aber bestimmt ihn die oben beschriebene
Situation. Er muß seinem Sohn, der bei Cratippus Philosophie hört,
zeigen, daß er das Handwerk des Philosophen beherrscht; so z.B.
daß man vor Beginn der Unterweisung das Thema definiert (1,7:
<omnis enim, quae ratione suscipitur de aliqua re institutio, debet a
definitione proficisci, ut intellegatur, quid sit id de quo disputetur>).
Weiter muß Cicero seinem Sohn, der in der Philosophie unter-
richtet wird, zeigen, daß er die Schulkritik an Panaitios kennt, daß
er sozusagen einen Überblick über die Sekundärliteratur hat. Weiter-
hin betont Cicero (1,6 Ende) sein eigenes kritisches Urteil (<iudicio
arbitrioque nostro>) gegenüber seinen stoischen Gewährsmännern.
Diese Tendenzen haben wir besonders bei den Darlegungen und
der Bewertung des <decorum> am Werk gesehen; sie haben, wie wir
eben sahen, in der konkreten Situation Ciceros den «Sitz im Leben».
Zum Abschluß sollte man sich vielleicht einmal vor Augen stellen,
welche Rolle Cicero in den anderen philosophischen Schriften
spielt: Er ist Berichterstatter eines Gesprächs (de re publica), er ist
Gesprächspartner (de divinatione), er ist Lehrer (Tusculanae dispu-
tationes) und er verfaßt in unserem Fall einen Brief an seinen Sohn.
2 In den Einleitungen wendet sich Cicero an seinen Sohn: 1,1-3; 11,1; 8; 111,1;
5 und 6.
In den Erörterungen: 1,15; 78; 151 Ende; 11,44; 111,33; 53; 67; 68; 81 und 121.
Cicero ist sich bewußt, daß der Sohn seine Darlegungen mit dem, was er bei
Cratippus hört, vergleichen wird. 111,33: <sic ego a te postulo, mi Cicero, ut mihi
concedas, si potes, nihil praeter id, quod honestum sit, propter se esse expetendum.
Sin hoc non licet per Cratippum, at illud certe dabis, quod honestum sit, id esse
maxime propter se expetendum.> -
Vgl. auch III,5, und 111,121: <quamquam hi tibi tres libri inter Cratippi com-
mentarios tamquam hospites erunt recipiendi.»
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